Es war einmal ein junger Soldat. Während er nachts durch den Wald marschierte, bemerkte er, dass ihm jemand folgte. Er blickte sich um und sah drei Wölfe. Sein Herz pochte. Blieb er stehen, blieben auch die drei Wölfe stehen. Ging er weiter, folgten sie ihm. Endlich kam er zu einem Hochsitz, auf den er kletterte. Die Wölfe setzten sich darunter und schauten zu ihm hinauf. Ob neugierig oder hungrig, vermochte er nicht zu sagen. Irgendwann fasste sich der junge Soldat ein Herz, stieg die Leiter wieder hinunter, und weil sie nicht Platz machten, trat er nach den Wölfen. Und siehe da, sie zerfleischten ihn nicht, sondern trollten sich. Am nächsten Tag war die Aufregung groß, der General berief sogar eine Pressekonferenz ein.
Sebastian Koerner schmunzelt, als er dieses neue deutsche Märchen erzählt, das sich auf dem Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen zugetragen hat. „Da liegt total viel gefährliche Munition rum, und dann machen die so einen Tanz wegen drei Welpen!“ Es seien Jungtiere gewesen, die den verängstigten Soldaten verfolgt haben. „Das konnte der nicht wissen, aber die sind nur neugierig, nicht gefährlich.“ Koerner weiß das, denn er ist Biologe und Tierfilmer und hat genau diese drei Welpen drei Wochen zuvor gefilmt. Da seien sie auch bis auf drei Meter an ihn herangekommen. „In meinem Tarnanzug sehe ich aus wie ein wandelnder Busch, und das hat sie wohl interessiert.“ Angst habe er dabei keine empfunden, sondern „riesige Freude“.
Es gibt wieder Wölfe in Deutschland, und – auch wenn es nicht jedem gefällt – sie breiten sich aus. „Die Eltern der drei Welpen sind aus der Lausitz nach Niedersachsen zugewandert“, sagt die Wolfsforscherin Gesa Kluth, „sie stammen noch vom ersten Wolfswurf ab.“ Das war im Jahr 2000 und es war hier in der Oberlausitz, dem östlichsten Flecken der Republik. Die Oberlausitz ist das Kerngebiet der deutschen Wölfe. Hierhin sind nach 150 Jahren in den 1990ern die ersten Tiere aus Polen eingewandert und geblieben. Im vereinten Deutschland durften sie, anders als in der DDR, nicht mehr geschossen werden.
„Das ist etwas Besonderes“, sagt die Biologin, „normal kommen ausgerottete Tiere nicht von allein zurück.“ Kluth betreibt im kleinen Backsteindorf Spreewitz zusammen mit ihrer Forscherkollegin Ilka Reinhardt das Wildbiologische Büro Lupus. Die beiden sind die führenden Wolfsforscherinnen in Deutschland. Im Auftrag des Freistaates Sachsen erfassen sie den Bestand frei lebender Wölfe, studieren ihr Verhalten und ihre Ausbreitung.
Wie das geht, zeigt Gesa Kluth auf einer Tour durch die Kiefernwälder rund um den Ort Spremberg. Dass Wolfswelpen keine große Scheu vor Menschen haben, sei nicht ungewöhnlich, erklärt Gesa Kluth.Ausgewachsene Wölfe gehörten aber zu den vorsichtigsten Tieren überhaupt. Mit dem Geländewagen fährt sie hinein in den Forst, in dem man sich schon nach wenigen Abbiegungen vollkommen verloren fühlt. Kiefern, Birken, Dickicht, alles sieht gleich aus. Einzig die sandigen Schneisen zum Brandschutz und für die Hochspannungsleitungen gliedern das Terrain. „Dort, wo sich die Wölfe wohl fühlen, ist es nicht unbedingt attraktiv für die Menschen“, sagt Kluth, während sie die an einen Baum gehängte Fotofalle kontrolliert. Mit Hilfe solcher auf Bewegung reagierenden Kameras kann man Wölfe fotografieren und Rückschlüsse auf ihr Verhalten ziehen. Diesmal sind 102 Fotos drauf, die aber nur das sich im Wind wiegende Gras zeigen, ein Reh, ein Wildschwein – und keinen Wolf.
Vom hier lebenden Spremberger Rudel, einem von 14 Rudeln in der Lausitz, kennt die Wolfsforscherin dennoch intimste Familiendetails. „Der Rüde, Karl genannt, hat mit seiner eigenen Nichte ein Rudel gegründet.“ Verpaarungen verwandter Wölfe seien häufig, aber nicht schlimm, sagt Kluth, solange immer wieder neue Wölfe zuwandern. Sie fühlen sich hier wohl, da es in der Lausitz hohe Wildbestände gibt und wenig Menschen. Karls Rudel hat in diesem Jahr jedenfalls sieben Welpen. Das weiß Kluth nicht durch Fotofallen oder Gen-Analysen von Wolfskot, sondern von Sebastian Koerner, dem es vor Kurzem gelang, die ganze Wolfsfamilie hier zu filmen. Praktischerweise ist Koerner ihr Lebenspartner und hat sein Büro gleich neben ihrem. Normalerweise ist Wolfsforschungmühsamer: Wolfskot suchen, Fotofallen aufhängen, Spuren verfolgen.
Eine solche sieht Kluth nun in der feinsandigen Trasse einer Hochspannungsleitung. „Geschnürter Trab, das könnte von einem Welpen sein“, sagt Kluth. Weiter oben auf dem Sandhügel findet sie den Rest eines Wolfshäufchens: Eindeutig, weil Rehhaare und Knochenstückchen darin zu sehen sind und es ziemlich streng riecht. Mehr als 4000 Wolfshäufchen haben die Forscherinnen eingesammelt und untersucht. Sie wissen genau, was den Lausitzer Wölfen schmeckt: 50 Prozent Reh, je 24 Prozent Hirsch und Wildschwein, der Rest Hase, Mäuse und – weniger als ein Prozent: Schaf. Hier beginnt das Problem.
Als die ersten Wölfe in die Lausitz kamen und nichts ahnende Bauern ihre Schafe auf unbewachten Weiden stehen ließen, da ergriffen die Wölfe die Gelegenheit. Bilder von zerfleischten Schafen und verzweifelten Schäfern gingen durch die Medien, Rufe nach dem Abschuss der Missetäter wurden laut. René Neumann, Schäfer aus dem Dörfchen Rohne, hat das erlebt. Sein Hof liegt mitten im Wolfsrevier: schöne, riesengroße Wiesen, komplett von Wald umgeben. Darauf weiden, wie auf dem Silbertablett, die 700 Schwarzkopfschafe seiner Herde. Neumann ist Anfang 40, ein sympathischer ruhiger Typ, der gerne sagt: „Sag mer mal so, wie’s is.“ Der Wolf sei für ihn „Nebensache“, sagt er jetzt, denn zwischen seinen Schafen hinter dem Elektrozaun stehen drei eisbärenartige Pyrenäen-Hunde. „Seit ich die habe, wurde kein einziges Schaf mehr gerissen.“
Vor zehn Jahren sah das noch anders aus. Neumann und sein Vater, von dem er übernommen hat, wurden bundesweit bekannt, weil sie in einer einzigen Nacht vor elf Jahren 43 gerissene Schafe zu beklagen hatten. Sein Vater wurde in der Bild gezeigt, mit der Schlagzeile: „Die Wölfe haben mich angegriffen“, was natürlich so nicht stimmte. „Es ist nun mal Gesetz, dass die Wölfe geschützt sind, damit muss man sich arrangieren“, sagt René Neumann. Heute freue er sich sogar, wenn er mal ein Wolfsrudel mit Welpen am frühen Morgen am Waldrand entlangstreifen sieht. „Das ist schon was Schönes.“
So wie er sehen das nicht alle Bauern, vor allem nicht dort, wo die Wölfe neu sind und diesen Sommer mehrere Schafe gerissen haben, etwa im etwas südlicher gelegenen Osterzgebirge. Dort werden Unterschriften für den Abschuss gesammelt. „Hier in der Oberlausitz ist es ruhig geworden um den Wolf“, sagt Kluth, „aber dort müssen wir wieder bei null anfangen.“
Tatsächlich ist die Oberlausitz ein besonderer Landstrich. Die ausgedehnten Kiefernwälder mit ihren Heideflächen und Mooren sind teils durchzogen von riesigen Braunkohle-Tagebauten. Zwei gigantische, fast von überall sichtbare Stromkraftwerke blasen ihren weißen Rauch in den Himmel. Immer noch werden neue Tagebauten erschlossen und ganze Dörfer umgesiedelt. Aufgelassene Gruben werden mit Wasser gefüllt und sollen nach und nach das „Lausitzer Seenland“ bilden. Und dann ist da der Truppenübungsplatz Oberlausitz, 160 Quadratkilometer groß und in der Muskauer Heide gelegen.
An dessen Rand fährt nun Stephan Kaasche mit dem Rad entlang, neben ihm läuft an der Leine sein Hund Bobby. Immer wieder bleibt der stehen, schnüffelt, markiert. Und Kaasche sucht nach Wolfsspuren auf den sandigen Wegen. Ein Seeadler zieht seine Kreise, und Kolkraben rufen aufgeregt. „Da oben könnte ein Wolfsriss liegen, den die Vögel sehen, aber wir dürfen in den Truppenübungsplatz nicht rein“, sagt Kaasche. Der Mittdreißiger mit blondem Bart und Jack-Wolfskin-Rucksack bietet Wolfstouren für Touristen an, ausgehend vom Erlichthof, einem Freilichtmuseum beim Dorf Rietschen. Hier, am Truppenübungsplatz, hat sich das erste Rudel niedergelassen, hier ist auch das Wolfskontaktbüro, eine Stelle, an die sich Schäfer und Bürger wenden können, wenn sie Angst vor oder Interesse am Wolf haben. In deren Auftrag vermittelt Kaasche die Forschungsergebnisse, die Gesa Kluth zusammenträgt.
Der Truppenübungsplatz sei ein idealer Rückzugsraum für Rehe und Hirsche und somit auch für die Wölfe, erklärt Kaasche. Hier sei das Wild viel ungestörter als in einem Privatwald, wo es mehr bejagt werde. „Dass ab und zu mit Panzern herumgeballert wird, stört die Tiere nicht.“ Kaasche sieht im Wolf ein „Alleinstellungsmerkmal“, mit dem die Lausitz mehr werben könnte. „Aber nicht alle Marketingleute sehen das so.“ Und die starke Jägerlobby habe Angst, „dass wir plötzlich mit Busladungen voller Touristen durch den Wald fahren, um Wölfe zu suchen.“ Das sei natürlich Unsinn, genauso wie die Furcht mancher Jäger, dass Wölfe das Wild vertreiben.
Ein Alleinstellungsmerkmal für die Lausitz sind die Wölfe schon heute nicht mehr. Sie haben sich von hier bereits nach Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ausgebreitet, wo sie den jungen Soldaten erschreckten. Lausitzer Wölfe seien sogar bis nach Norddänemark gelaufen, sagt Kluth. Es gibt 21 Rudel in Deutschland. Warum man den Wolf eigentlich brauche? „Er ist ein wichtiger Bestandteil des Ökosystems“, sagt Kluth. „Aber es ist auch eine Wertefrage. Alle Arten haben ein Lebensrecht, und die Gesellschaft hat das erkannt, auch wenn immer noch Angst geschürt wird.“ Bald wird es also in vielen Ländern wieder neue Märchen geben, die mit „Es war einmal ein Wolf“ beginnen. Nach Hoffnung der Wolfsforscher sollten sie mit „und weil er nicht gestorben ist, so lebt er noch heute“ enden.