Ans Ende der Türkei führt eine vierspurige Straße, neu und gut asphaltiert. Sie durchschneidet eine weite, ockerfarbene Hochebene. Auf den Telefonkabeln entlang der Straße sitzen knallbunte Vögel, Bienenfresser, als seien sie dazu da, ein wenig Abwechslung in diese Graslandschaft zu bringen. Es ist eine Landschaft, die keinen Schutz bietet gegen das Wetter und den Wind. Im Dunst in der Ferne zeichnet sich der Aragaz ab, mehr als 4000 Meter hoch. Er steht schon auf armenischem Staatsgebiet.
Das letzte Dorf der Türkei heißt Ocakli.Ein lustig klingender Namefür so eine traurige Siedlung. Die Steinhütten sind winzig, sie haben flache, grasbewachsene Dächer. Das isoliert wohl am besten gegen die Schneemassen, die hier bald liegen werden. Vor den Hütten sind kunstvoll errichtete Pyramiden und Mauern aus getrockneten Kuhfladen aufgeschichtet. Sie sind das einzige Brennmaterial, Holz gibt es weit und breit keines. Auf der Dorfstraße stehen alte, schlecht rasierte Männer um einen Lastwagen mit Gemüse herum und neugierige Kinder mit dunklen Augen, in Pullovern, die mal rosa oder hellblau waren. Sie hätten kein Wasser, klagt einer der Alten. „Obwohl wir das berühmteste Dorf der Türkei sind, sogar der Ministerpräsident war schon hier.“ Wasser habe er ihnen keines gebracht. Das Grundwasser sei salzhaltig, weswegen sie ihr Trinkwasser per Esel aus dem Fluss hochtragen müssten. Der bildet, durch einen tiefen Canyon fließend, die Grenze zu Armenien.
Diese Grenze ist geschlossen, seit 1993, seit dem Krieg Armeniens gegen das von den Türken als Brudervolk empfundene Aserbaidschan. Seitdem ist Ocakli das Ende der Türkei, und niemand würde wohl hierherkommen, wäre am Dorfausgang nicht der von dicken, 1000 Jahre alten Mauern umgebene Eingang zur ehemaligen armenischen Hauptstadt Ani. 100 000 Menschen sollen hier rund um das Jahr 1000 gelebt haben, das Ruinenfeld ist riesig. Relativ gut erhalten sind nur wenige Gebäude. Doch die stehen so pittoresk wie auf einem romantischen Gemälde herum. Vor allem die kürzlich sanierte Kirche des Heiligen Gregor thront direkt über dem Flusstal, auf dessen anderer Seite man die Grenzwachtürme der Armenier sieht. Die Soldaten lassen die Beine baumeln und schauen den ganzen Tag auf die Überreste aus der Blütezeit ihrer eigenen Kultur; doch sie könnten diese nur in einer mehrere hundert Kilometer langen Reise über Georgien erreichen. Unten am türkisfarbenen Fluss ist die steinerne Ruine einer Brücke zu sehen und die Trasse eines Weges, der im Zickzack auf der armenischen Seite aus dem Canyon hinausführt. Hier verlief eine der vielen Routen der Seidenstraße, und es braucht an diesem Platz nicht viel Phantasie, um eine Karawane mit vollbepackten Maultieren und Eseln vor Augen zu haben. Anis große Zeit, von der noch die monumentale, im Jahr 1001 vollendete Kathedrale zeugt, dauerte nur wenige Jahrzehnte. Was Seldschuken, Georgier und Mongolen übrig ließen, zerstörte ein Erdbeben im Jahr 1319. Die armenische Kultur und Bevölkerung hingegen blieb hier in Ostanatolien jahrhundertelang heimisch – bis die türkische Regierung während des Ersten Weltkriegs die Deportation von fast zwei Millionen anatolischen Armeniern befahl. Eine Deportation, die, wie man heute weiß, nicht die Umsiedlung, sondern die Vernichtung zum Ziel hatte. Je nach Schätzung sollen damals bis zu eineinhalb Millionen Menschen ums Leben gekommen sein.
Warum aber führt von Kars, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, eine so neue und breite Straße Richtung Grenze? Seit einiger Zeit gibt es eine behutsame Annäherung der beiden verfeindeten Staaten, die bisher in der symbolischen Aktion gipfelte, dass beide Staatspräsidenten im Land des jeweils anderen ein Fußballspiel besuchten. Zwar wurden die Verhandlungen wieder auf Eis gelegt. Doch kürzlich durfte, auch das eher symbolisch als nachhaltig, in der armenischen Kirche auf der Insel Aghtamar im Vansee nach mehr als 100 Jahren erstmals wieder ein armenischer Gottesdienst stattfinden.
Soll die Grenze also bald geöffnet werden? Niemand weiß das. Die meisten wünschen es sich. So auch Sezai Yazici: „Wir lebten hier nie vom Grenzverkehr, aber die offene Grenze gab uns Luft zum Atmen“, sagt der sanftmütige, ältere Herr auf der Terrasse des Hotels Kars. Er ist einer der besten Kenner der Geschichte dieser Stadt, die von Russen, Armeniern und Türken geprägt wurde, heute aber nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. „Wir teilen das Schicksal vieler Grenzstädte“, sagt Yazici, „aber falls sie die Grenze öffnen, wird Kars das Tor zu Asien.“
Sezai Yazici war früher Leiter der örtlichen Telekomzentrale, seit er in Rente ist, engagiert er sich dafür, dass Kars etwas hübscher wird. So plant er zurzeit Themenwege mit kleinen Tafeln zu den Aufenthaltsorten berühmter Reisender wie etwa des Dichters Puschkin. Vielleicht wird er auch mal einen Orhan-Pamuk-Weg einrichten, denn er verdankt dem Nobelpreisträger die Verewigung seiner Person im Roman „Schnee“, der in Kars spielt. Als moralisch rechtschaffener „Direktor des Fernmeldeamts“ hat er zwei kurze Auftritte im Buch, in dem sich Geheimdienste, Islamisten und Militärputschisten gegenseitig Böses wollen. Yazici hat Pamuk bei seinen Recherchen für den Roman in der Stadt begleitet; wofür er hinterher angefeindet wurde, weil Kars als ziemlich trüb und rückständig geschildert wird. „Ich bin froh, dass mir Pamuk das Buch nicht vor dem Druck zu lesen gegeben hat, sonst hätte ich ein noch größeres Problem gehabt.“ Aber es sei eben ein Roman und nicht ein Stadtführer, auch wenn manche Touristen mit dem Buch in der Hand etwa das darin beschriebene Hotel Schneepalast suchten.
Kars gehörte von 1877 bis 1921 zu Russland, und das sieht man auch. Die Straßen sind breit und rechtwinklig angelegt, hie und da stehen noch Gebäude von der Jahrhundertwende mit stuckverzierter Fassade. Vieles davon verfällt, daneben entstehen neue, wenig geschmackvolle Bauten aus verspiegeltem Glas. Wer von der Zitadelle über die Stadt blickt, die immerhin auf fast 1800 Metern liegt, der schaut auf zwei verfallende Hamams mit kleinen Kuppeln, direkt am Fluss Kars gelegen, auf eine armenische Kirche, aus deren Dach das Gras wächst, gleich neben einer großen Moschee. Rund um die Stadt erstreckt sich die Hochebene.
„Kars ist eine sehr moderne Stadt!“, sagt Nuriye Burhan in überzeugtem Tonfall. „Hier gehen alle in die Schule, die Mädchen sogar vor den Jungs.“ Nuriye ist eine selbstbewusste Frau um die vierzig, die zusammen mit ihrer Freundin Aysel Erol ein Restaurant der Frauenschutzorganisation „Kamer“ betreibt. Die beiden Frauen mit bunten Kopftüchern kochen hier Krautwickel, Linsensuppe oder Teigtaschen mit Hackfleisch, „das, was wir zu Hause auch kochen.“ Beamte, Richter und Lehrer kämen zu ihnen essen, einerseits. Andererseits kommen Frauen, die Hilfe suchen. „Entweder, weil sie schlecht behandelt werden oder weil sie Arbeit suchen“, sagt Nuriye. Sie hätten gute Kontakte zu Polizei, Behörden und Unternehmern und versuchten, den Frauen zu helfen. Falls es nicht anderes gehe, würden die Opfer häuslicher Gewalt in ein Frauenhaus gebracht. „Kamer“ gibt es mittlerweile in vielen Städten in Anatolien, allein in Kars existieren drei solcher Restaurants. Weil das Konzept so gut funktioniert, hätte sich der Bürgermeister beklagt, es gebe auch viele Männer, die einen Job brauchten. „Diese Einstellung ist falsch“, sagt Nuriye trocken, und mit dem Bürgermeister hätten sie sich ohnehin gestritten, weil der ihnen vor der Wahl Geld versprochen habe und dann nichts gekommen sei.
Der Weg von Kars nach Süden, in Richtung Vansee, führt häufig an der türkisch-armenischen Grenze entlang. Die Landschaftstypen wechseln im Halbstundentakt: Das Tal des Grenzflusses sieht manchmal aus wie ein Mini-Grand-Canyon, dann wieder fährt man durch eine Art Wüste aus rötlichen Hügeln, hinter dem Tendürekpass geht es an einem riesigen erkalteten Lavafeld entlang, bis sich schließlich der Ararat mit seiner Schneekuppe aus dem Dunst schält. Durch die Ebene zu seinen Füßen treiben kurdische Halbnomaden ihre Schaf- und Rinderherden in Richtung Winterbehausungen.
Und dann, als wollte die Landschaft noch eins draufsetzen, breitet sich der tiefblaue Vansee vor einem aus, umgeben von Dreitausendern. Meer nennen ihn die Einheimischen, er ist siebenfach größer als der Bodensee. Der schönste Platz darin ist die Insel Aghtamar, die man in etwa 50 Minuten mit dem Boot erreicht. Wieder waren es die Armenier, die hier, etwa 100 Jahre früher als in Ani, das Zentrum ihres Königreichs errichteten. Davon erhalten ist nur noch eine 1000 Jahre alte Kirche aus Sandstein. Hier fand vor kurzem der erste armenische Gottesdienst seit 115 Jahren statt, mit 4000 Teilnehmern aus aller Welt.
Da ist es nicht mehr ganz so überraschend, dass man an einem ruhigen Tag in der Kirche auf eine türkische Familie trifft. „Wir lieben diese Kultur“, ruft uns eine junge Frau mit Kopftuch zu. Wenn das mal kein gutes Omen ist, hier, am Ende der Türkei.