Nils, mal ehrlich, wie oft bist du in deinem langen Schlittschuhfahrerleben schon durchs Eis gebrochen? Nils überlegt, dann sagt er: „So zwölf, 13 Mal. Das letzte Mal erst vergangenen Winter.” Das war aber auch ein mieser Winter. So gut wie kein Eis. Nur kleinere Seen froren zu und die auch nicht besonders dick – siehe Nils. „Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn man das Eiswasser langsam hochsteigen fühlt bis zum Bauch.” Aber der Sicherheitsrucksack halte einem Kopf und Brust über Wasser. Und wenn man ruhig bleibe und sich bedächtig mit den zwei kleinen Eispickeln, die man um den Hals trägt, wieder zurück aufs Eis ziehe, sei es halb so schlimm.
„Richtig unangenehm wird es erst, wenn du wieder draußen bist und dich bei minus zehn Grad und Wind aus- und dann sehr schnell wieder anziehen musst.” Dazu solle man im Idealfall mindestens drei wohlgesonnene Mitläufer dabeihaben: Einer nimmt die nassen Kleider, ein Zweiter trocknet den Havarierten ab, ein Dritter reicht die neuen Kleider und hilft beim Anziehen. In jedem Rucksack sind eine wasserdicht verpackte Reservemontur von der Unterhose bis zur Windjacke sowie zwei Plastiktüten, die man sich über die trockenen Socken zieht, um wieder in die nassen, gefrierenden Schlittschuhe zu schlüpfen.
Doch das ist alles Theorie, graue, kalte Theorie, von der ich inständig hoffe, sie auf den nächsten 80 Kilometern nicht an ihrer Praxistauglichkeit messen zu müssen. So lange ist der Weg, den wir auf dem Eis des Mälaren-Sees von Uppsala, der alten Universitätsstadt, bis nach Stockholm zurücklegen wollen, immer nach Süden. Der gemeine schwedische Eisläufer fährt diese Strecke an einem Tag, etwa während des Vikingarennet. Das ist ein Volkslauf, der meist im Februar stattfindet, immer dann, wenn das Eis dick genug ist, um ein paar tausend Menschen zu tragen. Wir hingegen nehmen uns, eingedenk meiner südländischen Herkunft, zwei Tage Zeit. Das wären, im Erlebensfall, immerhin auch fast zwei Marathons – auf Schlittschuhen.
Nils Ohlson ist 60 Jahre und ein Mann alter Schule. Er trägt Knickerbocker, Gamaschen, Lederschuhe sowie eine verwaschene Windjacke, dazu alte Lederfäustlinge, die aussehen wie gegerbte Baby-Wale. Und im Gesicht steht ihm außer der Hornbrille ein gewinnendes, dabei spitzbübisches Lächeln, das immer entspannter wird, je größer die Herausforderungen auf dem Eis werden. Im Hauptberuf arbeitet Nils für eine Telefongesellschaft, aber ein paar Mal im Winter geht er auch für einen befreundeten Veranstalter mit zahlenden Gästen auf Tour.
„Du musst dir vorstellen”, sagt Nils, „du seist eine schwangere Ente.” Damit will er wohl sagen: Mit dem vornübergebeugten Eisschnelllaufstil, für den man Oberschenkel braucht wie Baumstämme, hat das Touren-Schlittschuh-Fahren relativ wenig zu tun. Man steht ganz aufrecht und wirft seine Beine locker links und rechts zur Seite, wie eine schwangere Ente eben, vielleicht sogar eine leicht angetrunkene. Je länger man auf einer Kufe gleitet, desto weniger anstrengend ist es. Die 40 Zentimeter messenden Kufen klippt man an ein Stahlstäbchen an der Schuhspitze fest, die Ferse ist frei und kann immer auf- und abgehen. Wenn Bereiche mit offenem Wasser oder zu dünnem Eis kommen, werden die Kufen abgeschnallt und man wandert am Ufer entlang.
Die ersten fünf Kilometer nach dem Ausgangspunkt in Skarholmen, am südlichen Stadtrand von Uppsala, fühlen sich etwas verkrampft an, doch sobald ich den Eisschnellläufer aus meinem Inneren verbannt und dem Erpel breiten Platz eingeräumt habe, geht es relativ zügig voran. Das Licht ist milchig, der Wind kommt zum Glück von hinten. Wir fahren auf einer Art Eisautobahn. Die Kommunen entlang des Sees halten jeden Winter mit Schneepflügen die ganze Strecke zwischen Uppsala und Stockholm frei. Man macht das, damit der Südschwede sich an der frischen Luft bewegen kann, denn die paar Zentimeter Schnee, die hier liegen, reichen nicht zum Skilanglauf.
Das Panorama, das sich dem Dahingleitenden bietet, ist bemerkenswert stabil: links Wald, rechts Wald, dazwischen die weiß-graue Eisfläche, oft gesäumt von einem gelben Schilfstreifen, hie und da ein paar rote Holzhäuschen, Bootssteg, eingefrorene Bojen. Zu hören ist nur das Kratzen der Schlittschuhe, das Geräusch hat etwas von jenem eines ein- und ausatmenden Tiefseetauchers. Das Eis ist zwar sehr dick, aber eher ruppig hier. „Orangeneis”, nennt Nils es, und er lässt auch durchblicken, dass der wahre Touren-Eisläufer normalerweise nicht auf solchen Eisautobahnen unterwegs ist. Ihn verlangt es nach dünnerem Eis, auf dessen Geräusche er hören muss, um sich seinen Weg selbst zu suchen. Bald wird er auf seine Kosten kommen!
Mir hingegen behagt das Gefühl, zwischen den Schlittschuhen und den tiefen Wassern des Mälaren eine 35 Zentimeter dicke Eisschicht zu wissen. Die Dicke kann man ganz einfach überprüfen, indem man einen der vielen auf dem Eis herumsitzenden älteren Herren fragt, die ihre Angelschnur in ein selbstgebohrtes Eisloch hängen lassen.
Nach 20 Kilometern Orangeneis wird es glatter, man gleitet fast widerstandslos. Bei Erikssund ist der See so schmal, dass Strömung entsteht und das Eis nicht gefriert. Wir schnallen die Kufen ab und wandern 20 Minuten durch Wäldchen und über Pferdekoppeln. Nach 40 Kilometern ist Sigtuna erreicht, Station für die Nacht. Eine Ansammlung gelber und roter Holzhäuser auf einer idyllischen Landzunge, die in den See hinausragt. Sigtuna gilt als eine der ältesten Städte Schwedens, 980 gegründet. Deshalb gibt es hier auch ein ernstzunehmendes Museum. Neben zahlreichen Runensteinen, Goldschmuck und einem ziemlich verwesten Bischof kann man auch die wohl ältesten Schlittschuhe Schwedens besichtigen. Sie waren in den zugigen Wintern um das Jahr 1100 in Gebrauch, erklärt Sten Tesch, der Leiter des Museums, und sind nichts anderes als glattgeschliffene Wadenknochen eines Pferdes, die mit Lederschnüren an den Schuhen befestigt wurden. Man hatte zwar einen langen Stock, mit dem man sich am Eis abstieß, aber eines ist gewiss: Für 40 Kilometer brauchte man damit nicht einen, sondern zehn Tage. Die großen Märkte, sagt Tesch, hätten hier früher stets im Winter und auf dem Eis stattgefunden, da ließen sich die Waren leicht verschieben. Die Strecke zwischen Uppsala und Stockholm war seit dem frühen Mittelalter eine wichtige Handelsroute, vor allem für Eisen, das vom Norden nach Stockholm gebracht wurde. Bis aber jemand auf die Idee kam, ein Stück Eisen unter die Schuhe zu schnallen, dauerte es bis ins 16. Jahrhundert.
Pech für den Wikinger, Glück für uns. Wir gleiten schon wieder der aufgehenden Sonne entgegen. Heute scheint sie ohne Unterlass, alles ist anders: die Farben, die Stimmung, das Eis. Die Beine auch, es zieht an Stellen, an denen es sonst nie zieht. Die Bewegungsabfolge einer Ente scheint doch gewöhnungsbedürftig. Nils wirkt heute sehr aufgeräumt, die Aussicht, so weit wie möglich ins Zentrum von Stockholm vorzustoßen, erfüllt ihn mit Vorfreude. Mich erfüllt eher Skepsis, hört doch die geräumte, sichere Eisbahn in Hässelby etwa 15 Kilometer vor dem Stadtzentrum auf. Der Grund: In der Stadt ist es wärmer, das Eis ist also dünner, zudem fahren Schiffe, die sich ihre Fahrrinnen aufbrechen. Je näher wir Hässelby kommen, desto größer wird die Zahl der Eisläufer, desto höher die Dichte der Kinderwagen. Bisher sind wir fast nur rüstigen Rentnern begegnet, sie scheinen die Hauptvertreter des Touren-Eislaufs zu sein. „Eislaufen kann man noch, wenn man schon keinen Sex mehr haben kann”, meint Nils grinsend. 300 000 Schlittschuhläufer gibt es in Schweden, Durchschnittsalter 35, die sich regelmäßig auf Seen oder sogar in die zugefrorene Schärenwelt der Ostsee wagen. „Man kann dort sogar auf Eiswellen fahren.” Nils’ Augen leuchten, als er das sagt.
In Hässelby, das durch die Schlote eines Heizkraftwerkes nicht zu verfehlen ist, wäre eigentlich unser Soll erfüllt. Die 80 Kilometer sind bewältigt, man könnte ein gutes, teures schwedisches Bier darauf trinken und mit der „Tunnelbana” in die Stadt hineinfahren. Doch Nils ist überzeugt, dass das eigentliche Abenteuer nun erst beginnt – er wird recht behalten. Er fährt voraus, ich soll mit mindestens zehn Metern Abstand hinterher. Nils stampft nun im Fahren immer wieder heftig mit seinen Kufen aufs Eis. Dieses antwortet mit Geräuschen, die nicht sehr zuversichtlich stimmen. Es hört sich an, als lasse jemand eine Bogensehne sausen: tiiijung, tiiijung! „Man muss auf das Eis hören, je höher der Ton, desto dünner ist es”, sagt Nils. Dazu stößt er mit seinen Stöcken, deren pfeilartige Spitzen locker ein Walross töten könnten, fest ins Eis. So könne er sehen, wie dick es ist. Sechs Zentimeter brauche es für eine Gruppe, für uns zwei reichten etwas weniger.
Für mich dürfte es ruhig etwas mehr sein, aber hier kann man sich das wohl nicht mehr aussuchen. Wir fahren am Rand der Rinne entlang, die große Schiffe ins Eis brechen. Die Eisbrocken frieren wieder zusammen, und in der seitlich einfallenden Nachmittagssonne leuchten sie wie ein Teppich aus Bergkristallen. Wir müssen durch riesige Felder tischplattengroßer Schollen, die flach übereinanderliegen. „Leichte Rücklage, wie beim Skifahren, und nicht zu wenig Schwung!”, befiehlt Nils. Mit 80 Kilometern in den Beinen ist das kein leichtes Unterfangen. Doch wie zur Belohnung gibt es nach dem Schollenfeld ganz glattes, schwarzes Eis. Es entsteht da, wo aus einer langen Bruchkante Wasser hochquillt und sofort wieder gefriert. Auf solch spiegelglattem Eis zu fahren, gibt Nils zu verstehen, ist dem Eisläufer das, was dem Skifahrer ein frischer Pulverschneehang ist. Wir arbeiten uns an Wohnblöcken und Gründerzeitvillen vorbei unter großen Brücken hindurch Richtung Zentrum vor. Niemand sonst scheint so todesmutig zu sein. Derart allein waren wir während der ganzen Fahrt aus Uppsala nicht.
Als Nils unter der Traneberg-Brücke anfängt, auf sehr hoch tönendem Eis herumzustochern, bin ich kurz davor, ihm die Gefolgschaft zu verweigern. Endlich kommt auch er ans Ufer, wir schnallen ab und gehen zur nächsten Tunnelbana-Station. Nur noch vier Haltestellen bis ins Zentrum. Nils’ spitzbübisches Grinsen reicht nun von Ohr zu Ohr: „So weit bin ich schon seit vier Jahren nicht mehr gekommen.”