Der alte Mann sagte: „Damit werden Sie Aufsehen erregen in New York!” Er meinte ein Paar Schlittschuhe, das er mir nach einer Beratung verkaufte, die so leidenschaftlich war, wie man sie heute kaum noch bekommt. Die Zusammenfassung, nur unwesentlich zugespitzt: „Sie halten ein Schweizer Produkt in Händen, handgenagelt in Kreuzlingen und nicht zu vergleichen mit den Industrieschlittschuhen, die es sonst so gibt.” Nun gut, so etwas tut man zunächst einmal als Marotte eines passionierten, etwas schrulligen Verkäufers ab. Aber Aufsehen, in New York noch dazu? Niemals!
In Manhattan gibt es etwa ein halbes Dutzend Eislaufplätze. Dazu kommen, wenn es richtig kalt ist, einige kleinere Seen im Central Park. Doch dort ist das Eislaufen meist verboten, denn es gilt der allerorten aufgemalte Satz: „Safety is our top concern!” – Sicherheit geht unter allen Umständen vor. Daran muss sich der ungestüme Eissportler aus Europa erst einmal gewöhnen. Genauso wie an die Tatsache, dass die Stadt und ihre Wolkenkratzer zwar so groß und hoch ist wie erwartet, die Eislaufplätze aber eher klein sind und meistens auch ziemlich voll. Der New Yorker, vor allem aber auch der New-York-Besucher scheint sich im Winter nichts Schöneres denken zu können, als zusammen mit 1500 anderen Individualisten im Kreis zu gleiten, noch dazu in lila Leih-Schlittschuhen – auch die Männer!
Der Bryant Park an der 42. Straße ist im Sommer ein Stück Wiese mit Brunnen, Büsten und Bänken drumherum, an einer Seite flankiert von der wuchtigen neoklassischen Public Library. Im Winter wird aus der Wiese ein Eislaufplatz mit temporärem Restaurant und Schließfächern in beheizten Zelten. Das Beste am Bryant Park: Es ist der einzige künstliche Eislaufplatz, auf dem man gratis fahren darf. Eigentlich. Falls man seine eigenen Schlittschuhe mitbringt. Und falls man ein Vorhängeschloss hat. Denn die Spinde, in denen man Tasche, Schuhe, Kamera verstauen kann, kosten sonst neun Dollar extra. Wer dafür zu geizig ist, weil er wenigstens einmal auf Kosten der den Eisplatz sponsernden Großbank seine Runden drehen möchte, der wird gleich ermahnt. Dazu gibt es hier sogenannte Skating Guards. Sie tragen orangene Jacken und helfen auch Gestürzten wieder auf. Eine kleine philippinisch aussehende Eiswächterin in Orange ist blitzschnell zur Stelle: „Es ist nicht erlaubt, Taschen aufs Eis zu bringen. Bitte schließen Sie sie ein.” Um die neun Dollar kommt man also nicht herum. Tasche eingeschlossen, nur mit der Kamera wieder aufs Eis, schließlich will man ja ein paar Erinnerungsfotos. Nach drei Minuten naht die Wächterin wieder: „Keine Kamera auf dem Eis!” Warum? Sie könnte herunterfallen, jemand könnte drüberstolpern, sich den Oberschenkelhals brechen, gibt sie sinngemäß zu verstehen. Für die Schweizer Schlittschuhe scheint sie kein Auge zu haben. Okay, okay. Kamera weg. Nur noch Eislaufen.
Das ist nicht so einfach, denn sehr viele lila Schlittschuhpaare drängen sich auf der weißen Eisfläche. Schaut man nach oben, ziehen abwechselnd alte 30er-Jahre-Hochhäuser und neue Glas-Stahlbauten vorbei. Aus den Boxen klingt Jazziges. Eine indische Familie hangelt sich schwankend an der Bande entlang, Teenager halten Händchen und ein leicht retardierter Typ fährt in voller Hockey-Montur im Trikot des Ex-NHL-Stars Jaromir Jagr herum. Auf seiner Brille sind winzige Tröpfchen, denn inzwischen hat Sprühregen eingesetzt, was hier aber keinen zu stören scheint.
Feuchtkalt ist es, da bietet sich ein Abstecher in die Public Library an: In den beeindruckenden Lesesaal mit seiner Holzkassettendecke und den Rosa-Wolken-Fresken retten sich auch die letzten Überlebenden im Klima-Katastrophenfilm „The Day after Tomorrow”, in dem ganz New York unter einer dicken Eisschicht begraben wird: Die Flüchtlinge verheizen kurzerhand das schwere Holzmobiliar. In puncto Sicherheit ist man in der Bibliothek viel entspannter als am Eisplatz nebenan. Zwar muss man seine Taschen öffnen, darf dann aber samt Kamera und sogar Schlittschuhen in den Lesesaal. Dort sitzen viele Menschen an langen Holztafeln, aber kaum einer liest ein Buch, die meisten Gesichter schimmern bläulich im Schein von Laptop-Bildschirmen.
Sieben Blocks weiter nördlich steht das Rockefeller Center und vor ihm der wohl berühmteste Eislaufplatz der Stadt. Das Vorhaben, hier mal Probe zu fahren, wird gleich wieder fallengelassen, denn vor lauter Menschen ist hier kein Stückchen Eisfläche mehr sichtbar. Das sieht nach Eisstehen aus, nicht nach Eislaufen.
Wie anders am nächsten Morgen im Central Park. Die Sonne setzt sich gegen die schnell ziehenden Wolken durch. Am Wollman Rink in der südöstlichen Ecke des Parks sind erst wenige Menschen auf dem Eis. Sie werfen lange Schatten. Über die schwarzen Schieferfelsen, die den Eisplatz umgeben, huschen fette Eichhörnchen. Hier lässt es sich gut fahren, das Eis ist hart und griffig, und gleichzeitig kann man die Skyline betrachten: Über die entlaubten Bäume hinweg schaut man auf sämtliche Hotelriesen, die sich im Süden an den Park reihen, Plaza, Helmsley, Essex, The Pierre und wie sie alle heißen. Ein Bollywood-Filmteam hat es auch auf diese Szenerie abgesehen, sie bauen vor dem Eisplatz einen Kamerakran auf, alle tun fruchtbar geschäftig und wichtig. Der Regisseur trägt Daunenjacke mit Kapuze und ruft dauernd: „Rreaddy? Rreaddy?” Es hat zwölf Grad. Das junge Schauspielerpaar lehnt außen an der Bande und muss 20 Mal eine Szene wiederholen, in der sich der Mann offenbar im Streit von der ziemlich gut aussehenden Hauptdarstellerin abwenden muss. Im Hintergrund drehen die Eisläufer ihre Runden – und sind vielleicht bald Kulisse vor einem Millionenpublikum, wenn der laut Klappe „Anjaana Anjaani” genannte Streifen in die indischen Kinos kommt.
Leider ist es zu warm, um auf den natürlichen Gewässern im Central Park Schlittschuh zu fahren. Dabei wurde ein See in der Mitte, schlicht The Lake genannt, von den Park-Erbauern im 19. Jahrhunderts extra auch zu diesem Zweck angelegt. Zum Schwimmen im Sommer und zum Eislaufen im Winter. Auf alten Fotos sieht man Frauen in langen schwarzen Röcken und Männer in Kniebundhosen auf dem Eis. Gerade schwimmen die Enten dort. Auf einem kleinen Hügel über dem See, am Belvedere Castle, wurde einst eine grüne Flagge ausgehängt, falls das Eis dick genug war, eine rote, falls Gefahr bestand. Heute ist in dem winzigen Schlösschen die Messstation untergebracht, die das New-York-Wetter in alle Welt hinaussendet.
Das ist zwar etwas warm für die Jahreszeit, was der Freude der Eisläufer am mit Pop beschallten Wollman Rink aber keinen Abbruch tut. Ein sehr alter Mann mit goldgerahmter Sonnenbrille und Zipfelmütze dreht seine Runden mit weit ausgreifenden Arm- und Beinbewegungen, so langsam, als wäre er seine eigene Zeitlupenstudie. Eine junge Argentinierin aus Santa Fe steht heute erstmals auf Schlittschuhen, ihrer strengen und reichen Großmutter, die sie zu der Reise eingeladen hat, habe sie gesagt, sie gehe ins Metropolitan Museum.
In der Mitte des Eisplatzes stehen zwischen orangenen Plastikkegeln drei ebenso orangene Eis-Aufpasser. Einer winkt nun, man solle zu ihm kommen. Wieder etwas falsch gemacht? Kamera und Tasche sind im Spind. Zu schnell gefahren etwa? Er schaut nur auf die Schweizer Schlittschuhe und sagt: „Hey man, du fährst den BMW, nein, den Mercedes Benz der Schlittschuhe! Ich wünschte, ich hätte auch solche, aber die kosten ja 600 Dollar hier.” Seine zwei Kollegen pflichten ihm mit Kennerblick bei. So teuer waren sie nicht annähernd, doch die nächsten Runden fahren sich dann doch noch etwas beschwingter. Irgendwann wird man das dem Schlittschuh-Verkäufer alter Schule erzählen müssen.