Den frühen Schneefall Mitte Oktober, „den haben wir eiskalt ausgenutzt“, sagt Andy Holzer, während er mit einer Gruppe von etwa 30 Wanderern über die Rodenecker Alm geht. Es ist eine Wanderung im Rahmen des International Mountain Summit, bei dem Interessierte mit Spitzenbergsteigern ein wenig auf Tuchfühlung gehen können. Auf den braunen Wiesen liegen Schneeflecken, und über verwitterte Holzzäune und Almhütten hinweg schaut man auf die schon ziemlich verschneiten Dolomitengipfel.
Die sind Holzers Welt, er lebt schließlich in Osttirol und ist seit seiner Kindheit winters wie sommers in den Bergen unterwegs. Dabei hat er sie noch nie gesehen, jedenfalls nicht mit den Augen, denn Holzer ist von Geburt an blind. Wenn er dann sagt, er habe im Oktober nach den ersten Schneefällen schon einige Skitouren gemacht, es liege ja mancherorts schon ein Meter Schnee, dann kann man das zunächst einmal nicht so recht glauben. Aufsteigen in einer Spur, nun ja, das mag noch gehen, aber abfahren, noch dazu in oft felsigem Gelände? „Als gut eingespieltes Team reichen mir manchmal vom Gipfel bis ins Tal sieben, acht Kommandos meines vorausfahrenden Partners“, sagt der 44-Jährige. „Je besser man sich kennt, desto weniger wird geredet.“ 20 Grad rechts, Hindernis auf zwei Uhr in 30 Metern, so lauten die Kommandos. Oder einfach nur: „800 Höhenmeter, steiler, breiter Hang ohne Hindernisse, Andy, da können wir’s krachen lassen.“
Und dann erzählt Holzer mit Genugtuung die Geschichte, wie er und sein Freund auf einem solchen Hang am Großen Geiger einer Gruppe Südtiroler Skibergsteiger davongefahren sind. „Die haben sich schon am Gipfel von uns verabschiedet. Doch dann war der Hang voll Bruchharsch, bärig, und als wir das erste Mal gebremst haben, sagt mir mein Freund, die Südtiroler seien noch 400 Höhenmeter über uns, sie täten sich etwas schwer.“
Die anfängliche Skepsis weicht rasch, und man glaubt Holzer jedes Wort, sobald er von seinen alpinistischen Glanztaten erzählt. Er ist ein großer, kräftiger Mann mit Pferdeschwanz, dazu äußerst kommunikativ. Inmitten der Wanderergruppe geht er über den Forstweg auf der Rodenecker Alm wie ein Sehender, ohne Stöcke. Gleichzeitig beantwortet er geduldig die vielen Fragen, die stets auf dieselbe Kernfrage hinauslaufen: Wie machst du das?
Holzer ist einer von zwei Bergsteigern weltweit, die trotz ihrer Blindheit Klettertouren bis zum 7. Schwierigkeitsgrad machen. Er hat neben unzähligen anderen bereits die Nordwand der Großen Zinne über die sogenannte Comici-Route bestiegen, ein auch für sehende Kletterer ziemlich anspruchsvolles Unterfangen. Mit dem Amerikaner Erik Weihenmayer hat er als erste blinde Seilschaft den 2700 Meter hohen Roten Turm in den Lienzer Dolomiten erklettert. Der Amerikaner hat ihn auch auf die Idee gebracht, die höchsten Gipfel aller sieben Kontinente zu besteigen. Fünf hat er schon, darunter den knapp 7000 Meter hohen Aconcagua. In drei Wochen bricht er mit seiner eigenen Expedition in die Antarktis auf, wo er den 4800 Meter hohen Mount Vinson besteigen will. Dann fehlt ihm nur noch der Everest, geplant für 2011.
„Die Augen eines Blinden sind seine zehn Finger“, sagt er. Deswegen habe er sich schon als Bub bei Wanderungen mit seinen Eltern immer dann am wohlsten gefühlt, wenn kleine Kletterpassagen dabei waren. „Das normale Wandern ist für mich mindestens so schwierig wie eine Klettertour im vierten Grad“, sagt er, „deswegen torkel ich da oft wie ein Rauschiger“. Davon ist allerdings auf der Almwanderung überhaupt nichts zu sehen. Wenn er einmal wegen einer Regenrinne im Forstweg stolpert, so fängt er sich so rasch ab und geht weiter, dass niemand Notiz davon nimmt.
Beim Klettern aber, da setzt er seinen außergewöhnlich ausgeprägten Tastsinn ein: „Das ist der zuverlässigste Sinn: Ich kann jede millimeterbreite Leiste ertasten und weiß, dass ich dort, wo ich eben noch mit den Fingern war, gleich mit dem Fuß draufsteigen kann.“ Als er als junger Mann den Wunsch äußerte, richtig bergsteigen zu lernen, haben ihn die meisten erst mal für verrückt gehalten. Doch dann fand sich im Hauselektriker seiner Eltern, dem Bruckner Hans, ein idealer Lehrmeister. „Er ist ein Querdenker, und wenn alle sagen, das geht nicht, dann sagt er: Das wollen wir doch mal sehen.“ Bis heute komme der Hans nach seinen Expeditionen als Erster mit einer Flasche Wein vorbei und wolle genau wissen, wie es gewesen sei.
Holzer klettert in der Seilschaft mit sehenden Kletterpartnern. Touren, die er schon oft geklettert ist, hat er sich so eingeprägt, dass er sie auch im Vorstieg, also als Führender der Seilschaft, bewältigt. Dabei brauche er per se mehr Kraft und Ausdauer als seine sehenden Seilpartner. „Ich klettere ja fast nur mit einer Hand, weil ich die andere ständig zum Tasten brauche – da musst du immer Reserven haben.“ Deswegen ist er auch noch nicht oft ins Seil gestürzt.
Einmal aber, am Pilastro in der Tofana, hat er die Warnung seines vorsteigenden Partners missachtet, er dürfe bei der dritten Expressschlinge keinesfalls zu weit links hinaussteigen. Er tat es doch und fiel. Ohne Ruf- oder Sichtkontakt zu seinem Kletterpartner baumelte er unter einem Überhang etwa drei Meter von der Wand entfernt im Seil. „Ich wusste nicht mehr, wo die Wand ist, und ich wusste, dass ich der einzige Mensch bin, der mir helfen kann.“ Er begann hin und her zu schwingen, es dauerte eineinhalb Stunden, bis er wieder Halt gewann. In solchen Situationen helfe ihm auch sein Glaube, sagt Holzer. „Himmelvater steh’ mir bei“, derlei Stoßgebete schicke er dann hinauf. „Und das hilft immer.“ Wenn er bei seinen Vorträgen vom Herrgott anfange, verließen manche Besucher fluchtartig den Raum, das gelte eben als uncool. Doch ihm ist es wichtig. So wichtig, „dass mich manche schon einen modernen Pfarrer nennen.“
Anfang des Jahres hat er seine Tätigkeit als Heilmasseur am Krankenhaus in Lienz aufgegeben und lebt nun nur noch vom Bergsteigen und von den Vorträgen, die er über seine Expeditionen hält. Seit er ein Buch geschrieben hat, sei das Interesse daran ziemlich gestiegen. Holzer bildet dafür ein Team mit seiner Frau Sabine, die er übers Funken, sein Hobby, kennengelernt hat und mit der er seit 20 Jahren verheiratet ist. Wenn er wieder von einer Expedition zurück ist, schneidet sie die Filme und ordnet zusammen mit ihm die Bilder, die seine Partner auf der Tour gemacht haben. „Ich habe aber meistens ein genaues Drehbuch im Kopf. Wenn ich auf dem Film eine Rucksackschnalle klicken oder die Yaks kommen höre, weiß ich genau, wo wir sind und kann das Material mit Sabine ordnen.“ Und selbst auf den Bergtouren müsse er seinen fotografierenden Partnern manchmal sagen, dass sie ein Porträt nicht gegen die Sonne aufnehmen sollen: „Das muss man sich mal vorstellen, ich als Blinder!“ Schließlich spüre er die Strahlen im Gesicht und wisse genau, wo sie stehe.
Holzer ist ein humorvoller Typ, der auch über sich selbst witzelt. „Schaumer mal“, sagt er öfters. Und als seine Frau ihn auf der Wanderung darauf hinweist, dass man jetzt schön den Peitlerkofel sehen könne, sagt er zu seinem Publikum: „Links könnt ihr schön den Peitlerkofel sehen – oder ist er rechts?“ Er ist rechts, Holzer muss lachen. Die Aussicht sei ohnehin überschätzt. Wegen der Aussicht, findet er, gingen nur die Sonntagsbergsteiger auf den Gipfel. „Für Profis ist die Aussicht eher ein Nebenprodukt.“
Auf der Rastnerhütte isst Holzer zuerst ein Gulasch und dann noch das halbe Schnitzel von seiner Frau. „Ich muss halt voressen für die Antarktis“, sagt er. Außerdem sei er kein Ernährungsapostel. „Denn ich weiß, dass mehr als 50 Prozent der Leistung beim Bergsteigen aus dem Kopf kommen.“ Die mentale Stärke, das ist sein Lieblingsthema. Deswegen hält er auch am liebsten Vorträge vor Führungspersonal in großen Unternehmen. „Hier kann ich am meisten weitergeben.“ Anderen Blinden Mut zu machen, das sei hingegen nicht seine Hauptmotivation. Die fühlten sich von ihm manchmal sogar „überfahren“. „Ich überfahr’ ja sogar die Sehenden mit meiner Energie.“