Die Reisewarnung! Das werden sie dem ORF nicht so schnell verzeihen. Dass er vor Reisen nach Osttirol gewarnt hat. „Normal macht das nur das Auswärtige Amt“, sagt Klaus Hofstätter. Sondersendungen im Fernsehen. Ein ORF-Reporter live vor dem Bahnhof in Lienz. „Das hat sich angehört, als stünden die Russen vor der Tür,“ sagt Hofstätter. „Dabei hat es halt mal einen Meter geschneit. Punkt.“
Hofstätter ist Geschäftsführer der Lienzer Bergbahnen, die mit dem Slogan Ski ,n‘ the City werben, weil die Lifte vom Stadtrand direkt ins Skigebiet führen. Nun ist er ein bisschen verärgert, weil durch die „Katastrophenberichterstattung“ manch sensibler Gast später oder gar nicht gekommen ist. Doch all zu viel klagen will er auch nicht. Schließlich könne die Meldung „Schneechaos in Osttirol“ im deutschen Fernsehen auch eine gute Werbung sein. Speziell in Jahren wie diesem, wo an der Alpennordseite nur Kunstschneebänder braune Bergwiesen säumen, während Osttirol und die ganze Alpensüdseite fast im Schnee erstickt. Zehn Prozent mehr Umsatz als im vergangenen Jahr kann Hofstätter schon jetzt verbuchen, Schneehungrige kämen kurz entschlossen her. Einziges Problem: Das Wetter. Denn es schneit. Und schneit weiter.
„Guck mal, die Sonne!“, ruft ein Familienvater oben am Hochstein über Lienz freudig aus, als diese sich kurz hinter den Wolken hervor schiebt. Dann sind Sonne und skifahrender Vater auch schon wieder weg. Wenigstens kann letzterer auf griffigem Naturschnee bis in die tief verschneite, nur 670 Meter über dem Meer gelegene Stadt abfahren.
Wer in diesen Tagen durch Osttirol reist, was wegen der gut geräumten Straßen kein Problem ist, erlebt das Land in einer besonderen Stimmung. Der Schnee deckt vieles zu, aber er bringt aber auch manches zum Vorschein, vor allem interessante Geschichten. So soll etwa das österreichische Bundesheer seine Black Hawk-Hubschrauber dazu genutzt haben, um verschneite Bahnlinien und vom Umsturz bedrohte Bäume an den Straßen von der Schneelast freizublasen. Endlich mal eine sinnvolle Verwendung, wird nun im Land gespottet. Und während man auf freigefräster Straße zwischen zwei Meter hohen Schneewänden wie in einer Bobbahn Richtung Obertilliach fährt, bringt Radio Osttirol folgende Story mit Happy End: Ein Rudel Hirsche war unweit von Untertilliach wegen der Schneemassen in einem Bachbett eingeschlossen und in Panik. Der zuständige Tierarzt, praktischerweise auch gleich Jäger, betäubte jedes Einzelne per Gewehr, woraufhin das Rudel in einem Transportnetz per Hubschrauber (Black Hawk?) in der Nähe einer Futterkrippe ausgesetzt wurde. Es sei eher unwahrscheinlich, ließ sich der Tierarzt zitieren, dass er im Sommer eines dieser Tiere mal vor die richtige Flinte bekomme.
Obertilliach, ein schönes Dorf mit eng aneinander gebauten Holzhäusern, vielen Misthäufen und guten Gasthöfen, liegt auf 1450 Metern im Lesachtal. Dieses führt bis nach Kärnten hinunter und ist so etwas wie das Epizentrum der Schneefälle in diesem von zahlreichen Adriatiefs gespeisten Winter. Hier geht Hansjörg Schneider jeden Morgen kurz vor sieben um sein Haus herum, hin zu einer Stelle mit Wetterhäuschen und rot-weiß-rot markierten Messlatten. Er liest die Schneehöhen ab, um sie an den hydrographischen Dienst des Landes Tirol zu melden. „Zurzeit ist es schon spannend“, sagt Schneider, ein Mann Ende Vierzig mit Glatze und Designerbrille. „Wieviel wird es diesmal wieder sein? Man schätzt ja eher mehr.“ An diesem Morgen sind es 195 cm absolute Schneehöhe, davon 18 cm Neuschnee. „Von November bis jetzt habe er fünf Meter und 92 Zentimeter Neuschnee gemessen. Im auch sehr schneereichen Winter 2008/2009 seien es insgesamt 7,42 Meter gewesen. „Wenn das so weiter geht mit den Tiefs, dann knacken wir das“, sagt Schneider. Die Meteorologen sprechen angesichts der Neuschneemengen von einem Wetterereignis, das nur alle 75 bis 100 Jahre einmal vorkomme.
Kein Wunder also, dass bei Schneider, der im Hauptberuf Tourismuschef des kleinen Wintersportortes ist, derzeit ständig das Telefon läutet. „Kommt man hinauf zu euch? Braucht man Ketten? Ist das Skigebiet offen?“ sind die häufigsten Fragen, die Schneider immer gleich beantworten kann: Ja. Nein. Ja. Dennoch habe es nach den großen Schneefällen Anfang Februar 15-20 Prozent Absagen gegeben. „Aber es rufen auch Freerider an, die am nächsten Tag hier sind und Hänge runterfahren, in die sich jetzt kein Einheimischer trauen würde.“ Bisher ist nur eine Lawine abgegangen und zwar vom steilen Dach der Kirche auf den Friedhof, dessen eiserne Kreuze nicht mehr zu sehen sind.
Obertilliach erinnert gerade ein bisschen an Schlumpfhausen, der Schnee liegt über zwei Meter hoch auf den Dächern und bildet einen schönen Kontrast zum dunklen Holz der Häuser. Es ist sehr romantisch für den, der nicht Schnee schaufeln muss. Mancher Hausbesitzer steht bis zu den Oberschenkeln eingesunken auf seinem Dach und schippt wenigstens den Rand frei, damit die Dachrinnen nicht abbrechen. Die Dächer halten es aus, so hat ein von der Regierung geschickter Statiker befunden. Eine ältere Dorfbewohnerin fragt den Tourismuschef und Schneemesser im Vorbeigehen hämisch, ob es ihm jetzt genug Schnee sei. Direkt aus dem Dorf führt ein alter Sessellift in das kleine Skigebiet. Von oben sieht man während kurzer Wetteraufhellung, sogar den Großglockner, der zurzeit aussieht wie der K2. Auf den Pisten und daneben tut der viele Schnee phantastische Dienste, es fährt sich wie auf Watte. Unten muss er mühsam mit Lastwagen aus den Gassen hinausgekarrt werden. Auf einer Wiese am Dorfrand wächst ein Schneehaufen, auf dem man sicher bald Olympische Spiele veranstalten kann.
Straße frei, Ofen warm, Sauna heiß – Sepp Lugger, Juniorchef des Gasthofs Unterwöger versteht nicht, warum „die Medien da fast ein zweites Galtür konstruiert haben.“ Auch er hat Stornos zu beklagen, dabei sei die Straße durch das Lesachtal erst hinter dem Ort gesperrt gewesen. Und, anders als zu Weihnachten, als drei Tage lang der Strom weg war, habe diesmal alles funktioniert. „Wir haben dazu gelernt,“ so Lugger. Die ersten zwei Tage zu Weihnachten ohne Strom hätten die Gäste noch als romantisch empfunden, den dritten dann weniger. Das habe aber seiner Ansicht nach weniger an der eingeschränkten Menüauswahl als am zusammengebrochenen Mobilfunknetz gelegen: „Ohne Facebook waren die Kinder am Tisch nicht mehr ruhig gestellt.“
Der Schnee fällt schon wieder in dicken Flocken, als man von Obertilliach nach Außervillgraten fährt. Das eine Tal runter, das andere hinauf. Im Radio sagen sie diesmal, dass sich das Bundesheer zurückgezogen hat, aber in Bereitschaft bleibe. Also erst mal Waffenruhe. In der Pension Gannerhof in Innervillgraten steht der Bergführer Hannes Grüner unter alten Holzbalken und referiert vor etwa zwei Dutzend Skitourengehern die Schnee- und vor allem Lawinenlage. Der Wirt hat ihn eingeladen, und sich einleitend bedankt, dass die lieben Gäste „trotz der Hiobsbotschaften gekommen sind.“ Im Villgratental gibt es keine Skilifte, man hat sich hier auf Tourengeher spezialisiert. In Bergführer Grüners Rede kommen recht oft die Worte „Gleitschneerisse“, „kein normaler Winter“ und „Vorsicht!“ vor. Er erläutert, dass die Schneedecke sich zwar ganz gut gesetzt habe, aber so mächtig sei, dass Lawinen sehr große Ausmaße erreichen können. Ganz hinten im Tal wurde der Schneepflugfahrer von einer solchen getötet.
„Ich bin da sehr defensiv“ sagt Grüner am nächsten Tag beim sehr defensiven Aufstieg zur Öbelenke, der über die raiffeisenkalenderhafte Kamelisenalm durch meterdicken Pulverschnee führt. „Ein toter Tourengeher wäre eine Katastrophe für das Tal.“ Paradoxerweise profitiere er als Bergführer von der angespannten Schneelage, sagt Grüner. „Die Leute sind dann unsicher und nehmen sich eher einen Bergführer.“ Lieber wäre es ihm anders, aber man kann es sich nicht aussuchen. Entgegen dem Wetterbericht kommt während der Tour immer mehr die Sonne heraus. „Nur nicht zu viel Sonne, sonst wird der Schnee schlecht“, sagt Grüner. Nach der Abfahrt ist klar: Seine Befürchtung bewahrheitet sich nicht. (SZ vom 13.02.14)