Nach knapp 14 Stunden Vogelbeobachtung, nach vielen Steinschmätzern und Maskenwürgern, nach Olivenspötter, Türkenkleiber und Adlerbussard (oder war’s ein Falkenbussard?), als alle schon müde, verschwitzt und hungrig sind, halten wir kurz vor Sonnenuntergang an einer vierspurigen Straße im Niemandsland. Alle steigen aus, schleppen ihre Stative mit Fernrohren über einen steinigen Feldweg und richten sie aufs Gebüsch. Dann hält Tobias Epple, der Reiseleiter, sein iPhone in die Höhe. Es zwitschert und tiriliert daraus. So soll die Maskengrasmücke angelockt werden, ein kleiner grauer Vogel, den Kerem Ali Boyla, ein mitgereister türkischer Vogelexperte, hier neben der Straße vermutet. Doch aus dem Gebüsch antwortet nichts. Nur andächtige Stille.
Als durchaus interessierter Gast-Birdwatcher fände man nach einem so langen Tag jetzt eine andere Annäherung an die Vogelwelt verlockender: etwa jene mit Messer und Gabel an ein Grillhähnchen. Doch bei den meisten Teilnehmern, von denen einige schon im Rentenalter sind, erwachen nun die Lebensgeister neu; sie lassen den Reiseleiter auf die Böschung kraxeln, bitten ihn, dass er noch mal die Maskengrasmücke aus dem Telefon singen lässt. Und dann noch einmal. Als endlich ein realer Vogel antwortet, fährt die Gruppe so lange nicht weiter, bis auch der Letzte das Tier im dichten Gebüsch gesehen hat.
Es ist Tag eins der einwöchigen Vogelbeobachtungs-Reise, auf der die zwölf Teilnehmer, fast alle aus dem Schwäbischen, sich einmal quer durch die halbe Türkei birden, vom Meer über das Taurusgebirge bis zum Euphrat. „Da hat man keinen Stress, wenn nur Birdwatcher dabei sind“, sagt einer. Wie das gemeint ist? „Na ja, niemand will irgendwelche Kirchen oder Moscheen anschauen.“ Also gar keine Sehenswürdigkeiten? „Doch. Im Vorbeifahren.“ Für Vögel hingegen muss der türkische Bus-Chauffeur zu seiner eigenen Verwunderung häufig bremsen: hier ein Greif, dort ein Schwarzstorch. Alle raus. Stative aufbauen, durchs Fernglas gucken, weiterfahren.
Schon am ersten Tag frühmorgens soll es ein Highlight der Reise geben: den Fischuhu. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Uhu (Bubo Bubo), der weitverbreitet ist, stellt der Fischuhu (Bubo zeylonensis) für ambitionierte Vogelkenner so etwas wie den Quastenflosser der Lüfte dar. In der westlichen Paläarktis, einem Gebiet, das vom Nordpol bis Nordafrika und von Portugal bis zum Kaukasus reicht, glaubte man ihn schon ausgestorben, bis vor einigen Jahren ein türkischer Fischer an seiner Angel „nicht nur einen Fisch, sondern daran auch einen Fischuhu hängen hatte“, wie der Biologe Kerem Ali Boyla erzählt. Er und vor allem sein Kollege Soner Bekir, mit dem er Vogeltouren in der Türkei anbietet, machten sich daraufhin auf die Suche nach dem seltenen Tier. Sie fanden an Flüssen und Stauseen in der Südtürkei immerhin acht Brutpaare, eines davon am Oymapınar-Stausee, keine 30 Kilometer von Side, wo Sonnenschirm neben Sonnenschirm steht und der All-inclusive-Tourismus nicht besonders viel Rücksicht auf die Natur nimmt. „Die anderen sieben Orte bleiben geheim, um die Vögel zu schützen“, sagt Boyla, „aber hier am Oymapınar kann man sich ihnen mit dem Boot gut nähern, ohne sie zu stören.“
Das versuchen wir nun auch, Treffpunkt ist um fünf Uhr früh. Der Stausee liegt zwischen steil abfallenden, von Kiefern und Laubbäumen bewachsenen Kalkbergen, den Ausläufern des Taurus. Auf einem großen Boot mit Elektromotor geht es hinaus, das erste Sonnenlicht färbt das Wasser hellgelb, alles liegt still und friedlich da, noch sind keine Ausflugsboote mit lauter Musik unterwegs. Die Gruppe istvoller Vorfreude, alle haben an Deck ihre Stative mit Fernrohren in Stellung gebracht. Die meisten kannten sich schon vor der Reise und engagieren sich in Naturschutzprojekten. Karin Bihlmaier etwa, eine jugendlich wirkende Frau mit blonder Dauerwelle, ist seit 33 Jahren beim Nabu aktiv. „Wenn du die Natur liebst, willst du sie irgendwann schützen“, sagt sie. Seit die Kinder groß sind, hat sie wieder mehr Zeit, zusammen mit ihrem Mann den Vögeln nachzustellen, normalerweise mit dem Wohnmobil. Sie sind schon 9000 Kilometer durch Skandinavien gefahren. „Aber die Türkei, in der es viele Arten gibt, die wir noch nie gesehen haben, trauten wir uns nicht alleine zu“, sagt Bihlmaier. Als Frau ist sie hier in der Minderheit, die meisten Birdwatcher sind Männer. Man sei halt genetisch immer noch Jäger und Sammler, sagt einer aus der Gruppe. Das Führen einer Liste, auf der die Arten akribisch verzeichnet werden, überlässt sie denn auch ihrem Mann Harry. Harry ist ein lustiger Typ mit dunkler Mähne und D’Artagnan-Bart, er hört und sieht ziemlich gut. Gerade hat er eine Eule rufen hören. „Der Fischuhu!?“ Alle stürzen auf eine Seite des Bootes, reißen die Ferngläser hoch. Doch leider war es nur ein schnöder Waldkauz.
Das Boot fährt immer tiefer in einen schmalen, von steilen Felsen begrenzten Seitenarm des Stausees hinein. Und dann geht alles ganz schnell. „Da oben sitzt er!“, ruft einer aus der Gruppe. „Wo?“ tönt es zurück. „Auf dem Baum.“ – „Da sind viele Bäume.“ – „Auf dem mit der roten Rinde.“ Tatsächlich sitzt ein Uhu auf einem aus dem Fels wachsenden Erdbeerbaum und glotzt aus seinen hübschen gelben Augen zu uns herunter. Von den aufgeregt an Deck herumrennenden Typen scheint er sich nicht gestört zu fühlen. „Eindeutig ein Fischuhu“, sagt Kerem Ali Boyla. Er ist etwas kleiner und schmaler als der normale Uhu, seine Federohren stehen fast waagrecht ab und nicht senkrecht wie beim normalen Uhu. „Er frisst nur Fische und Krebse“, sagt Boyla. „Wahrscheinlich lokalisiert er nachts die Fische nur durch sein Gehör. Aber wir wissen noch sehr wenig über diese Art.“ Während alle den zweiten Fischuhu beobachten, den Kerem auf der anderen Seite der Schlucht entdeckt hat, fällt plötzlich ein Schuss. Der eine Uhu fliegt erschreckt über die Schlucht, wo er sich auf den Baum zum anderen setzt. „Das sind nur Wildschweinjäger“, beruhigt Kerem die Vogelliebhaber. Die Uhus würden hier gut geschützt, da die Bootsbetreiber mit den vielen Europäern, die nur deswegen hierherkommen, ein gutes Geschäft machten. In der Türkei gebe es im Unterschied zu anderen südlichen Ländern kaum Vogeljäger, sagt Boyla, aber auch kaum Vogelbeobachter. Auf etwa 400 schätzt er ihre Zahl im ganzen Land, seine Beobachtungstouren macht er nur mit den vogelbegeisterten Amerikanern und Europäern.
„Das war doch jetzt Gala“, sagt Harry Bihlmaier, nachdem wir in einer zweiten Schlucht in der Felswand noch mal zwei Fischuhus gesehen haben – und alle nicken zustimmend.
In der Türkei werde zurzeit enorm viel gebaut, sagt Boyla, „das ist ein bisschen wie in China, der Naturschutz hat da keine Priorität.“ Da dies vor allem an den Küsten und in den Städten geschehe, sei jedoch noch immer die Hälfte des Landes „ökologisch intakt“, sagt der international erfahrene Biologe. Vor allemdas Taurusgebirge ist wunderschön. Man braucht nur ein bisschen von Antalya ins Hinterland fahren und schon ist man in einer Bilderbuch-Türkei mit hübschen Bergdörfern, von langen Steinmauern begrenzten Feldern und Blumenwiesen, hinter denen sich die weißen Kalkberge des Taurus erheben. Es kann hier sehr heiß werden, aber das stört die Birdwatcher nicht, die nach der Tour zum Fischuhu erst mal deftig frühstücken und dann den ganzen Nachmittag durchs Gebirge bei Akseki laufen, vom Olivenspötter zum Türkenkleiber zum Maskenwürger. Sammler sind glückliche Menschen.
Morgen fahren sie weiter, es warten das Kaspische Königshuhn, der Braunliest und der Waldrapp. Nach einer Woche werden sie 167 verschiedene Vogelarten gesehen haben. „Das ist vor allem dem Reiseleiter zu verdanken“, schreibt der älteste Teilnehmer in der Kundenbewertung der Reise. Und fügt hinzu: „Vielleicht hätten es in der Hitze von Birecik (46 Grad) ein paar Vögel weniger auch getan. Ein bisschen mehr Zeit, um Obst zu kaufen, um im Schatten zu sitzen und Tee oder Ayran zu trinken.“