Lei net zu broat! Nur nicht zu breit! Robert Schönweger ruft den zwei Arbeitern zu, die mit kleinem Bagger und Presslufthammer auf 1500 Höhenmetern dabei sind, ein Stück des Weges neu zu machen. Seines Weges. Schönweger ist einer der Erfinder des Meraner Höhenweges. „Und der soll nicht breiter als einen Meter werden“, sagt er, „sonst haben wir hier Mountainbiker und Motocross-Fahrer.“ Gerade hat der 70-Jährige viel zu tun. Denn den Weg, der in 100 Kilometern einmal um die nordwestlich von Meran gelegene Texelgruppe herumführt, gibt es nun seit 30 Jahren. Schönweger muss zum Jubiläum immer wieder Wanderungen begleiten und erzählen, wie alles begann.
Der damalige Präsident des Südtiroler Alpenvereins, der mittlerweile gestorbene Helmuth Ellmenreich, habe schon Anfang der Siebzigerjahre die Idee gehabt, die alten Fußwege zwischen den steil über Meran gelegenen Bauernhöfen durch zusätzliche Steige so zu verbinden, dass ein zusammenhängender Wanderweg entsteht. „Ich war damals Wegewart und kannte mich da oben gut aus, deswegen durfte ich das umsetzen“, sagt Schönweger. Aber das dauerte. Geld war nicht viel vorhanden. „Die örtliche Bank spendierte einen Presslufthammer, und wir schenkten ihn den Bauern, die dafür ein neues Wegstück anlegten.“ Die meisten Bergbauern hätten schnell begriffen, dass ein neuer Wanderweg auch zusätzliche Touristen bringen würde, denen man gut Speck, Wein oder Bier verkaufen konnte. Dass der Meraner Höhenweg, durchgängig markiert mit der Nummer 24, einmal derartig erfolgreich werden sollte, ahnte damals niemand.
Heute ist er der meist begangene Weitwander-Rundweg in Südtirol. Vier Seilbahnen führen aus dem Tal hinauf, was den Einstieg leicht macht. Und von den am Weg gelegenen Bauernhöfen gibt es fast keinen, der nicht hauptsächlich von der Bewirtung der Wanderer lebt. Mehr als 4000 sind es jetzt zur Hochsaison – täglich. Vor allem bei deutschen Gästen ist der Weg beliebt. Die Mehrheit der Höhenweg-Wanderer nimmt den Anstieg mit der Seilbahn, spaziert oben ein bisschen herum und fährt wieder herunter.
Wer mit der Texelbahn von Partschins auf den Giggelberg fährt, kann sich vom Bekanntheitsgrad des Weges ein Bild machen. Die Parkplätze an der Talstation sind gerammelt voll, fast nur deutsche Kennzeichen. An der Seilbahn kommt es jetzt im August schon mal zu längeren Wartezeiten. Viele Familien mit Kindern, Rentner, Hunde quetschen sich in die moderne Kabine, die sie auf 1500 Höhenmeter bringt. An der Bergstation hat man drei Möglichkeiten: nach Westen Richtung Sonnenberg und weiter ins Schnalstal gehen; nach Nordost Richtung Meran und Passeiertal; oder 50 Meter bis zur Terrasse des Gasthofs Giggelberg spazieren und erst mal eine Radlerhalbe trinken – wofür sich nicht wenige der Wanderer entscheiden.
Schönweger, immer noch gut zu Fuß, geht voraus Richtung Schutzhütte Nasereit: immer leicht auf und ab, der Weg bleibt aber großteils auf einer Höhe, durch Fichtenwald, an alten Lärchen vorbei, über Steinstufen und Wurzeln. Und immer wieder Holzbänke, von denen man auf Meran blicken kann und die den Ort umgebenden, riesigen Apfelplantagen. Menschen mit Panama- und anderen Strohhüten wandern vor und hinter einem, kleine Kinder, alte Leute. Das hier ist einer der einfachsten Abschnitte des Meraner Höhenweges, aber es gibt auch brenzligere Stücke. Wegbereiter Schönweger erinnert sich, wie er selbst die Ketten zum Festhalten an den Fels des Lodners montiert hat: „Mein Sohn war sechs und hat assistiert. Wir haben Schwefel mit einem Gaskocher flüssig gemacht und damit die Eisen in die Wand zementiert. Aber du musstest aufpassen, dass du den Schwefeldampf nicht einatmest.“ Auch die Jugend des Alpenvereins half mit; 1985 war der Rundweg fertig.
Fünf bis sechs Tagesetappen sind es für jene Weitwanderer, die den ganzen Weg gehen. Nur etwa zehn Prozent der Wanderer tun das – aber auch das bedeutet: mehrere Tausend. So schön der Weg an der Südseite ist, man sollte auch den wilderen, einsameren, nördlichen Teil gesehen haben, der durchs Hochgebirge führt. Zum Beispiel von Pfelders aus. Wer nicht die Zeit hat, von Meran über die bunten Spronser Seen dorthin zu wandern, kann mit dem Bus durch das ganze Passeiertal fahren, hinauf bis auf 1600 Meter; am Ende des Tals liegt Pfelders, ein Bilderbuchort. Von hier geht es auf die Stettiner Hütte, auf 2875 Höhenmetern gelegen, zum höchsten Punkt des Meraner Höhenweges.
„Eins sag’ ich dir gleich: Rennen tu ich nicht.“ Es ist das erste, was Ulrich Kössler zur Begrüßung sagt. Kössler, 74, mehr als 40 Jahre seines Lebens als Bergführer tätig, ist der zweite ideale Begleiterfür diese Wanderung. Er hat den ganzen Meraner Höhenweg mit zahlenden Gästen „sicher zwölf Mal“ gemacht. Und er kennt jeden Stein und jeden Hüttenwirt. Und jeder Stein und jeder Hüttenwirt kennt ihn. Was auch daran liegt, dass der Meraner Bergführer fast alle Skitourenführer zu Südtirol geschrieben hat und ständig im Land unterwegs ist. Kössler trägt einen Bart wie Fidel Castro, nur ist er ungleich fitter, was auch der uralte Skistock nicht verschleiern kann, den er als Gehhilfe verwendet.
Zuerst geht es von Pfelders durch ein grünes Hochtal, das von einem Wildbach durchzogen wird. Murmeltiere pfeifen. Auf den steilen Bergwiesen wird gerade das Heu gemäht und mit einer genialen Technik heruntergebracht: An langen, von den Wiesen ins Tal gespannten Stahlseilen sausen, nur an einen Haken gehängt, die schweren Heuballen runter und prallen an eine eigens aufgestellte Bretterwand, an der die Heulader warten. „Das ist urig, ha?“, ruft Kössler begeistert. „Das machen die noch aus Stolz und Tradition – und weil sie dafür Subventionen bekommen.“ Von der ebenfalls urigen Lazinser Alm am Talschluss steigt der Weg zur Stettiner Hütte in langen, nie steilen Zickzack-Kehren an. „Den Weg haben die Faschisten gebaut“, sagt Kössler, der ohne Pausen geht, „also das italienische Militär. Gute Maurer haben sie ja, die Italiener.“ Ende der Zwanzigerjahre sei das gewesen, um die Grenze zu Österreich zu überwachen. In den Sechzigerjahren, als Südtiroler Bombenattentate verübten gegen den italienischen Staat, habe das Militär viele der Berghütten am Grenzkamm besetzt, um den Schmuggel von Sprengstoff zu unterbinden.
Heute machen hier italienische wie deutsche Gäste Urlaub. Während die Italiener gerne über breite Wege zu den Almen wandern, ziehe es die Deutschen weiter hinauf, sagt Kössler. Dennoch würden die Betten knapp: „Die Wirte in Pfelders haben im August ihre Stammgäste, da zahlt es sich nicht aus, Wanderer für nur eine Nacht zu nehmen.“ Manche Hoteliers richten nun Bettenlager für die Weitwanderer ein.
Nach vier Stunden erreichen wir die sehr schön zwischen zwei Dreitausendern gelegene Stettiner Hütte, beziehungsweise einen Holzbau, der als Ersatz dient. Im Winter 2014 wurde der ursprüngliche Bau von einer Lawine weggerissen. Auf einen Schlag fehlten 120 Schlafplätze für die Weitwanderer. „Das macht sich schon bemerkbar“, sagt Hüttenwirt Andreas Schwarz. Das Land Südtirol, dem die Hütte gehört, wollte sie bis zum Neubau geschlossen halten. „Das geht doch nicht, bei so viel Wanderern!“, ärgert sich Schwarz. Also hat er den Gastraum samt Küche selbst bauen lassen. Jetzt kriegt man hier, auf fast 2900 Höhenmetern, tadellose Speckknödel, bevor man sich an den Abstieg macht. Bergführer Kössler ist schon mal vorausgegangen. Erst im Tal wird man ihn einholen.