Raus aus Riga! Es ist acht Uhr morgens, die Wolken hängen tief. Mārtiņš Sirmais steuert seinen Volvo an spätsowjetischen Plattenbauten vorbei über schnurgerade Straßen in den sich herbstlich färbenden Wald hinein. Dabei schaut er eher ausnahmsweise auf die Straße, meistens aber seinen Gesprächspartner auf dem Beifahrersitz an. „Warum sollte ich frittiertes Moos essen, wenn ich ein schönes französisches Filet Mignon haben kann? Und ihr knöpft mir auch noch viel Geld dafür ab!“, sagt Sirmais. Solches bekomme er in Lettland als moderner Koch noch oft zu hören, es brauche noch einiges an Überzeugungsarbeit.
Sirmais, der in Trenchcoat und Holzfällerhemd gewandet ist, fällt diesbezüglich eine entscheidende Rolle zu. Der Mittdreißiger ist so etwas wie der lettische Jamie Oliver. Seit Jahren hat er eine Kochsendung im Fernsehen, in der er auf lockere Weise den Letten zeigt, was eine richtige neapolitanische Pizza und ein gutes Chili con Carne ist oder wo man die besten Wassermelonen findet: in Usbekistan, wohin er bald mit seinem Filmteam reist. Gleichzeitig geht es ihm auch darum, die einheimischen Produkte und Geschmäcke in den Fokus zu rücken. Nach dem Ende der Sowjetunion mit ihrer Einheitsküche seien exotische Früchte und vor allem Pizza, Burger und Sushi ins Land gekommen. „Die Leute waren heiß darauf.“ Doch nun versuchen Sirmais und viele seiner Kollegen in Riga eine regionale lettische Küche zu schaffen, die so fein und besonders ist, dass die Leute nicht mehr nach Filet Mignon verlangen.
Diese Küche muss natürlich auch etwas mit dem Wald zu tun haben, schließlich besteht mehr als das halbe Land, das fast so groß wie Bayern ist, aber nur zwei Millionen Bewohner hat, aus Wald – Ahorn, Birken, Eichen und vor allem Kiefern. Und deshalb fährt Sirmais nun auch auf einer unasphaltierten Straße mitten in den Gauja-Nationalpark hinein, den größten des Landes, durchzogen von fischreichen Flüssen und Seen. Dort, wo die Straße aufhört, stehen auf einer großen Lichtung zwei Backsteingebäude, umgeben von Streuobstbäumen, an denen dick die gelbroten Äpfel hängen. Ēriks Dreibants wohnt hier, Sirmais Kompagnon und einer der einflussreichsten Köche des Landes. Er ist gerade in das ehemalige Försterhaus gezogen, mehr als eine Autostunde von Riga entfernt, wo er zusammen mit Sirmais zwei Restaurants betreibt und also jeden Tag pendeln muss.
„Die Stadt ist etwas für junge Leute, hier ist es ruhiger“, scherzt Dreibants. „Außer es röhren nachts die Elche, wie jetzt gerade, zur Brunftzeit.“
43 Jahre alt ist Dreibants, er hat sich das Kochen selbst beigebracht und viele Stadien von der Militärküche bis zur Molekularküche durchlaufen. Er hat den lettischen Klub der Küchenchefs gegründet und federführend ein Manifest verfasst, wie man in Zukunft kochen wolle. Ganz dem derzeitigen Trend folgend, will man vor allem mit regionalen und saisonalen Produkten arbeiten. Aber was sind eigentlich typisch lettische Geschmäcke? So einfach ist das für Dreibants und Sirmais gar nicht zu beantworten.
Nach einer kurzen Wanderung durch den Wald, während der Dreibants einige Pfifferlinge und Täublinge in seinen Korb sammelt, ergeben sich am großen Holztisch in seinem Haus dann doch ein paar Antworten. In Salz gelegte Waldpilze gibt es da, geräucherten Zander, in Aspik eingelegte saftige Tomaten und Zwiebeln, eine nussig schmeckende Paste aus Hanfsamen und dazu etwas, was auf keinem Tisch in Lettland fehlen darf: das dunkle, fast schwarze Roggenbrot. „Wenn ich im Ausland bin, vermisse ich das am meisten“, sagt Sirmais und bestreicht eine Scheibe davon mit Butter. Es schmeckt gleichzeitig süßlich und säuerlich, ähnlich dem norddeutschen Pumpernickel. Geräuchertes, Eingelegtes und Fermentiertes, solcherart haltbar gemachte Speisen seien in der lettischen Küche sehr wichtig. „Kein Wunder, die Gemüsesaison hier ist kurz, nur drei Monate, da muss man sich was einfallen lassen“, sagt Dreibants. Man werde in den guten Restaurants von Riga diese Geschmacksnoten in verfeinerter Form wiederfinden.
Eingelegtes und Geräuchertes – der Zentralmarkt in Riga ist dafür die Weihestätte. In den fünf großen Markthallenaus den 1930er-Jahren, für sich schon Sehenswürdigkeiten, biegen sich die Tische: In der Gemüsehalle gibt es auf verschiedenste Art eingelegte Salz- und Essiggurken, das Sauerkraut ist in Rot und Weiß dick aufgehäuft, daneben eingelegter Knoblauch, Pilze und Rote Bete. Es duftet herrlich. „Es gibt fast nichts, was wir nicht einlegen“, sagt Kaspars Jansons. Er ist Chefkoch in einem kleinen Restaurant in der Altstadt namens Muusu und holt sich auf dem Markt Zutaten, die er sonst nicht bekommt, heute zum Beispiel letzte Pfifferlinge, die alte Frauen hier anbieten, sieben Euro das Kilo.
Es gibt eine Fleischhalle, in der man den Metzgern bei der Arbeit zuschauen kann, eine Milch- und Brothalle, aber am beeindruckendsten ist die Fischhalle, in der alles, was in der Baltischen See und vor allem in den Flüssen und Seen des Landes schwimmt, in frischer und geräucherter Form angeboten wird: Zander, Hechte, Heringe, Aale, Kaviar. Das Angebot erschlägt einen fast. Jansons zeigt auf aalartige, in Gelee eingelegte Fische: „Das ist Neunauge, gibt es fast nur noch in Lettland.“ Das Tier braucht sehr sauberes Wasser und ist fast überall in Europa ausgestorben. Nur hier darf er noch in Flüssen gefangen werden. Beim Braten sondert er das Gelee ab, in dem er auch konserviert wird. Er schmeckt sehr fischig, leicht rauchig und hat buttrige Konsistenz. „Wir Letten lieben ihn.“
Riga mit seinen 700 000 Einwohnern entwickelt sich seit einigen Jahren von einem Party-Ziel für europäische Sauftouristen hin zu einer Stadt mit hohem Qualitätsanspruch. Die Altstadt mit ihren Backsteinkirchen und Bürgerhäusern ist toll saniert, man sieht, dass es eine alte, stolze Hansestadt ist, die sowjetischen und frühkapitalistischen Architekturverbrechen halten sich in engen Grenzen. Das Nationalmuseum wurde kürzlich vollständig renoviert, voriges Jahr wurde am anderen Ufer der Daugava die neue Nationalbibliothek eröffnet, ein weithin sichtbares modernes Gebäude, das auch für Kongresse und Veranstaltungen genutzt wird. Den Charme der Stadt machen neben dem Wasser auch die vielen Parks aus und besonders das Nebeneinander von bürgerlichen Jugendstilgebäuden und kleinen Holzhäusern. Außerhalb der Stadtmauern war lange Zeit nur der Bau von Holzhäusern erlaubt, viele sind erhalten und werden nun renoviert, gerade hat das besonders schöne Holzhaus der Nationaldichter Rainis und Aspazija als Museum eröffnet.
Zur Qualität der Stadt gehören natürlich auch die Restaurants, und hier gibt es mittlerweile eine überraschende Vielfalt. Schicke Adressen wie das lange tonangebende Vincents, das Bibliothēka Nr. 1 im alten Kurhaus oder das 3 Pavaru von Mārtiņš Sirmais und Eriks Dreibants in der ehemaligen amerikanischen Botschaft treiben junge Köche zu Höchstleitungen an, laufend gibt es Neueröffnungen. Sogar die volkstümliche Selbstbedienungs-Restaurant-Kette Lido bietet für kleines Geld zwar rustikal fleischlastiges, aber frisch und gut gekochtes Essen an, wofür man etwa in Bayern schon in ein besseres Wirtshaus gehen müsste.
Sirmais, der Fernsehkoch, hantiert in seinem stylischen 3 Pavaru hinter dem Kochtresen viel mit flüssigem Stickstoff und Bunsenbrenner herum, Show muss sein, die Vorspeise kommt wie ein Miró-Bild daher, als bunte Kleckse auf einem Butterpapier: Essenz aus Sanddorn, aus Basilikum, geräucherter Ziegenkäse und die Hanfsamenpaste. Es gibt dann auch Straußentartar mit Entenei und eingelegten Zwiebeln. Der Strauß, versichert Sirmais, sei aus einer lettischen Zucht.
Bei Dzintars Kristovskis käme der afrikanische Vogel wohl nicht auf den Tisch. Der reichlich tätowierte, etwas introvertierte Bartträger ist der kompromissloseste unter Rigas Köchen. Er verwendet hartnäckig nur Produkte, die saisonal in Lettland vorkommen oder solche, die er selbst fermentiert hat: „Man muss schmecken, in welchem Land und in welcher Saison man isst“, meint er. Vielleicht wurde er auch deshalb zum kulinarischen Botschafter ernannt, als Riga und der Gauja-Nationalpark nominiert wurden zur „Europäischen Gastronomie-Region 2017“.
Kristovskis, ein Underdog, der seine Karriere im Kebabladen begonnen hat, waltet in einem Bierpub der Valmiermuiža-Brauerei, im Kreativen-Viertel rund um die Miera-Straße. Eigentlich kommen die Leute hier zum Biertrinken her, aber Kristovskis bietet auch ein Degustationsmenü mit Bierbegleitung an, das es in sich hat. „Die Einheimischen bringen Fine Dining und Bier noch nicht zusammen, sie sind sehr konservativ“, sagt Kristovskis. Er kreiert äußerst interessante Gerichte: eine Creme aus selbst geräuchertem Kabeljau, dazu Dillöl und in Salzteig mit Heu gebackene Kartoffeln, wozu das servierte Rauchbier hervorragend passt; ein Tartar aus den typischen eingesalzenen Waldpilzen mit Sauerrahm und schwarzem Rettich; Filet von einer ausgedienten, aber zarten lettischen Milchkuh mit einer Sauce aus Birnen und sehr herben Vogelbeeren, dazu Dunkelbier; ein Gelee aus Sanddorn und Wacholder, das gleichzeitig süß, sauer und salzig schmeckt.
Nach derartig neuen Geschmackserlebnissen führt einen Kristovskis noch in seine Küche, die so sauber aussieht, als könne dort sofort am offenen Herzen operiert werden. Stolz präsentiert er riesige Einweckgläser, in denen er Fermentierversuche mit Birnen, Porterbier und Heu anstellt. „Ich finde“, sagt er zum Schluss, „man tut den Leuten Gutes, wenn man ihnen nicht immer das gibt, was sie gerade erwarten.“