Neun-Uhr-Messe in der Glide Memorial Church in San Francisco Downtown. Beim Betreten der unscheinbaren Methodisten-Kirche wird man von einer freundlichen Dame in Highheels per Handschlag begrüßt: „Happy Sunday!”.
Holzbänke, viele Klappstühle, keine Bilder, kein Kruzifix. In der Altargegend ist eine große Bühne, auf der ein paar Musiker Keyboard, Saxophon und Stromgitarre stimmen. Dann kommt der Reverend. Ein großer Mann mit weißem Bart und stattlichem Bauch. „Let’s celebrate life!”, ist seine Botschaft, die gleich mit einem Song untermauert wird. Für Textunkundige werden die Strophen an die Altarwand projiziert.
Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, alle klatschen mit. Ein großer Chor joggt unter Applaus auf die Bühne. Nach dem nächsten Lied befiehlt der Reverend: „Umarm’ deine Brüder und Schwestern!” Links und rechts und vorne und hinten muss man nun fremde Menschen herzen – gefangen in der Nächstenliebe. Nacheinander treten Solosänger auf. Mit ihrer Stimmgewalt und Bühnenpräsenz könnten sie große Konzerthallen füllen.
Dann kommt der Witzeerzähler. Er berichtet, wie er zur „Glide Familiy” kam. „Da wo ich herkomme, da sind die Spenden direkt in den Cadillac des Pastors
geflossen.” Hier in der Glide hingegen komme jeder gespendete Dollar in Hilfsprojekte für arme Menschen, von denen die Glide-Stiftung zahllose unterhält. Eine Dame im Designerkostümchen mit Stöckelschuhen und großem Hut – die Frau des Reverends – ruft mehrmals zum Spenden auf, dann gehen Körbchen durch die Reihen. Das „Offering” wird hier als einer der Höhepunkte der Messe zelebriert, schließlich lebt die Glide von Spenden.
Die Predigt. Sie wird gehalten von einem korpulenten Mann, der nicht der Reverend ist. Er redet sich binnen Minuten in Rage, tänzelt um ein Stehpult herum und ruft immer wieder mit der Stimme des jüngsten Gerichts: „Practical intimacy!” Die Botschaft ist einfach und auf die Krise im Golden State gemünzt: Weil die Amerikaner zu sehr das Geld anbeten, ihre Häuser und Autos, gehe das Land den Bach runter. Der Prediger zitiert Koransure 102, in der es um die Anhäufung von Irdischem geht, um dann elegant überzuleiten zu Jesus. Der habe sich „darüber sehr klar geäußert”: „ Entweder ihr betet mich an – oder das Geld!”
Immer wieder zustimmende Zwischenrufe: „Yeah!”, „Yeah man!” Die Messdiener lassen Kleenex-Boxen durch die Reihen gehen. Viele greifen zu und wischen sich die Tränen ab. Derweil der Prediger in immer schärferem Ton konkrete Anweisungen gibt: „Wenn ein Armer zu dir kommt, schick’ ihn nicht fort, hol’ ihn rein, gib ihm zu essen, kümmer’ dich um seine Bedürfnisse! – das ist practical intimacy!”
Zur Zerstreuung kommt zum Schluss noch eine Werbeeinlage: Zwei bullige Männer aus dem Chor präsentieren die neuesten Merchandise-Artikel aus dem Glide-Shop: Es sind Kochschürzen, mit denen sie vor johlendem Publikum ein tuntiges Pas de deux aufführen – schließlich hat die Glide auch eine Homosexuellen-Gemeinschaft. Dann ist die Show zu Ende. Happy Sunday!