Der Weg auf die Datscha führt erst einmal durch den Stau. Nichts geht mehr in der Orangerie-Straße, die schnurgerade durch Puschkin führt, vorbei an mondänen Häusern in Mintgrün, Hellgelb und Rosa. „Das ist jeden Freitagabend so, alle wollen zu ihren Sommerhäusern“, sagt Elena, die am Steuer ihres Minis sitzt und uns mitnimmt zum Essen bei ihren Freunden auf der Datscha, um uns diese russische Lebensform näherzubringen. „In dem Haus dort hat sich die Zarin mit Rasputin getroffen“, sagt Elena und zeigt aus dem Auto. „Und das gelbe Holzhaus war Puschkins Datscha!
Puschkin, die Stadt 30 Kilometer südlich von St. Petersburg, wurde 1937 nach Alexander Puschkin benannt, dem Lieblingsdichter der Russen. Früher hieß sie Zarskoje Selo, Zarendorf, denn hier haben sich die Zaren – vielmehr die Zarinnen – ihre eigene, nicht ganz unbescheidene Datscha gebaut, die später als Großer Katharinenpalast zum Hauptsitz der russischen Kaiser wurde, inklusive Bernsteinzimmer. Bis zu 12 000 Touristen besichtigen den Palast täglich. Elena Barash ist dort für die Veranstaltungen zuständig.
Als sich der Stau endlich auflöst, holpern wir noch eine Weile über staubige Schlaglochpisten, dann stehen wir vor einem roten, spitzgiebeligen Blockhaus, der Datscha von Alexei und Marina Wyssozki. Sie begrüßen uns herzlich, der Grill raucht bereits, dicke Nackensteaks liegen darauf. Das Haus ist umwachsen von Büschen und hohen Blumen: „Ich wollte hier auf keinen Fall Gemüse anbauen“, sagt Marina, die als Neurologin im örtlichen Krankenhaus arbeitet. „Als Kind musste ich immer meinen Eltern im Datschagarten helfen, und das habe ich gehasst“, sagt sie und lacht. „Ich wollte aber wenigstens Kartoffeln ziehen“, sagt ihr Mann Alexei, Maschinenbauingenieur und früher Marineoffizier in Murmansk. Er zeigt stolz ein paar Prachtexemplare der diesjährigen Ernte. Im sandigen Boden hier gedeihen sie gut.
Das Abendlicht wirft ein weiches Licht über die Datschensiedlung, lauter bunte, wild eingewachsene Häuschen unter einem weiten Himmel, an dem sich harmlose weiße Wolken staffeln. Man kann gut verstehen, weshalb die Russen diese Form des sommerlichen Lebens so lieben, weshalb kaum ein russischer Dichter ohne Datscha-Episoden auskommt und weder Kriege noch Kommunismus der Datschakultur großarti
g etwas anhaben konnten. In der Sowjetzeit wurden zumindest die kleinen Datschen nie verstaatlicht.
Mehr als zwei Jahre lang haben die Wyssozkis, eine Mittelstandsfamilie, an ihrem Holzhaus im finnischen Stil gebaut, teuren Grund gekauft, Wasseranschlüsse und Parkett verlegt und einen Kachelofen installiert. Jetzt, da es so gut wie fertig ist, überlegen sie, irgendwann, wenn die Töchter aus dem Haus sind, ganz aus der Stadt hierher zu ziehen. „Das wäre mein Traum“, sagt Alexei, der jede freie Minute hier draußen ist. Er schenkt italienischen Wein zum Gegrillten ein, es gibt Koriander und Dill zum Abbeißen dazu, Gurken, Tomaten, Semmeln mit rotem Kaviar. Dass Putin vor Kurzem europäische Lebensmittel vernichten ließ, das verübeln ihm die an diesem Tisch Anwesenden genauso wie die meisten anderen Russen, noch dazu in und um St. Petersburg, das von der Wehrmacht belagert wurde und wo 800 000 Menschen den Hungertod starben.
Ansonsten wird nicht weiter politisiert, die Stimmung ist fröhlich. Von der Wand ruft plötzlich ein Kuckuck, alle lachen, die Uhr haben sie diesen Sommer in Neuschwanstein gekauft, als sie durch Österreich und Süddeutschland gefahren sind. Die Datscha ersetzt die Urlaubsreise nicht, sie war immer schon ein Zweithaus in der Nähe der Stadt. Es ist dunkel, wir verabschieden uns und fahren über unendlich lange, gerade Straßen hinein nach St. Petersburg.
In dieser europäischsten Stadt Russlands wurde die Datscha erfunden. Stadtgründer Peter der Große ließ sich 30 Kilometer westlich der Stadt am Finnischen Meerbusen sein Sommerschlösschen bauen, so wie er das auf seinen Reisen durch Europa gesehen hatte. Weil ein Zar natürlich nie Urlaub hatte und auch im Sommer seinen Hofstaat brauchte, teilte er das Land rund um Peterhof in gleich große Grundstücke auf und gab sie seinen Adligen als Bodenlehen, Datscha genannt; das kommt vom Wort dawat (geben) und bedeutete also die Gabe des Zaren. Neu daran war, dass die Begünstigten die Auflage bekamen, Sommerhäuser zu bauen. Das wurde bald zur allgemeinen Mode. 1834 schrieb Puschkin, der selbst einen Sommer lang jene heute als Museum betriebene Datscha in der Stadt Puschkin bewohnte: „Petersburg ist leer, alle sind auf den Datschen.“ In der am Reißbrett geplanten Stadt gibt es kaum Gärten und Parks, weshalb die Datscha für viele die einzige Möglichkeit war und ist, in der Natur zu sein.
Und sie war ein Ort der relativen Freiheit, wo man den Zwängen von gesellschaftlicher Konvention, Arbeitsleben und auch Politik ein bisschen entfliehen konnte. Großeltern und Kinder blieben den ganzen Sommer auf der Datscha, die Männer kamen am Wochenende. Das ist bis heute so. Die meisten russischen Dichter schrieben über diesen reizvollen Freiraum, der natürlich vor allem für Betrug, Affären oder politische Komplotte genutzt wurde. Dostojewski, Tolstoi und vor allem Tschechow machten dies zum Thema. Lenin tauchte auf einer Datscha im Küstenort Repino unter. Anna Karenina trifft ihren Geliebten Wronski auf ihrer Datscha in Peterhof, und Tschechows Kirschgarten, der verschuldeten Adligen gehört, wird abgeholzt, um darauf Datschen für die reichen Bürger zu bauen.
Apropos reiche Bürger. Wir haben eine weitere Einladung, diesmal in Komarowo. Das ist eine der schönsten Datschensiedlungen rund um St. Petersburg. Sanft zum Strand hin abfallender Kiefernwald, dazwischen mondäne alte Holzhäuser mit verglasten Veranden und großen Gärten. Und immer mehr hohe, blickdichte Tore, die sich auf Knopfdruck öffnen. Was dahinter zum Vorschein kommt, Datscha zu nennen, ist so, als würde man den Zarenpalast als Villa bezeichnen. Dennoch erfüllt es für die Petersburger Unternehmerfamilie Kapitonow (der Name ist auf ihren Wunsch geändert, weil sie Scherereien fürchtet) den Datschazweck. „Freiheit, frische Luft und kein Gedränge“, sagt Oleg Kapitonow, ein Mann in seinen Sechzigern, auf die Frage nach dem Datschagefühl. Ganz leger im Jogginganzug führt er durch das nagelneue Haus, das jedem Schöner-Wohnen-Heft zur Ehre gereichte. Ein Beton-Glaskubus mit Eichenholz-Freitreppe, die aus dem sieben Meter hohen Wohnzimmer-Atrium hinaufführt zu den Schlaf- und Gästezimmern. Alle Räume sind mit Designermöbeln bestückt, das meiste ist sehr geschmackvoll, nur die vielen übergroßen Flachbildfernseher sind es nicht. Ein Gästehaus für Sohn und Enkel gibt es auch, doch die urlauben gerade in Spanien. Ein Flachbau beherbergt das Spa mit 25-Meter-Pool, Banja, Sauna und Yogaraum.
Den ganzen August über und an den Wochenenden sei man hier, sagt Anna Kapitonowa, Olegs zierliche und perfekt geschminkte Frau, um deren Beine zwei Yorkshireterrier wuseln. Dann weist sie auf ein Gewächshaus im Garten hin, in dem Tomaten und Gurken hängen. „Unsere Maßnahme gegen die Sanktionen“, scherzt sie. Ihr Mann verdient sein Geld mit dem Verkauf westlicher Mittelklasse-Automarken. Seit der Krimkrise sei das Geschäft stark zurückgegangen. Putin habe die Unternehmer gewarnt: „Ihr liebt das Geld mehr als euer Vaterland.“ Seitdem müsse selbst er als arrivierter Unternehmer bei Behörden Schlange stehen, klagt Kapitonow. Dann lieber den Sommer hier draußen in Komarowo genießen, Pinienduft atmen und am Strand spazieren gehen, der mit Terrassenlokalen gespickt ist und flach ins Baltische Meer abfällt. Bevor die reichen Russen nach Komarowo kamen, waren hier die Finnen, das Gebiet am nördlichen Finnischen Meerbusen war umstritten, zwischen 1917 und 1940 gehörte es zu Finnland. Der Ort hieß Kellomäki, schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten hier russische Künstler und Intellektuelle ihre Datschen. 1948 wurde der Ferienort umbenannt in Komarowo, nach dem damaligen Präsidenten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Überraschend schenkte Stalin den Mitgliedern jenes Elite-Gremiums, den Akademiki, Datschen, 25 davon in Komarowo. Die Holzhäuser wurden aus Finnland importiert und waren alle gleich gebaut: Spitzgiebel, Hochparterre mit kleiner Küche, großem Wohnzimmer und einer hübschen, verglasten Veranda, unterm Dach die Schlafzimmer.
Genau so wie das Haus von Galina Wlasowa. Die energiegeladene alte Dame empfängt uns freundlich. Die Datscha ist voll mit Bildern und bunten Holzskulpturen ihres verstorbenen Mannes, der Künstler war und das Haus von seinem Akademiki-Opa erbte. Auf der Veranda steht ein uralter sowjetischer Fernseher. Galina Wlasowa war 17 Mal Tennismeisterin von St. Petersburg und sieben Mal sowjetische Meisterin. Sie ist noch immer Professorin an der Sporthochschule der Stadt, den ganzen Sommer verbringt sie hier draußen. „Hier kann ich am besten arbeiten“, sagt sie. Und hier hat sie auch ihren Mann kennengelernt. „Da war ich bereits verheiratet, aber so geht das eben unter den Datschniki.“ Sie serviert chinesischen Tee und Blaubeeren, die ihr die Nachbarin vorbeigebracht hat.
Früher, da sei man einfach zu den Nachbarn rübergegangen. „Es war frei und ungezwungen.“ Man habe Ausflüge unternommen, Tennis oder Theater gespielt. „Die freundschaftliche Atmosphäre hat sich am stärksten verändert“, sagt Galina Wlasowa. Die Nachbarn mit ihren großen Häusern kenne sie nicht mehr. „Zum Glück aber sind meine Enkel mit den Enkeln aus der Nachbar-Akademiker-Datscha befreundet. So setzt sich die gute Tradition wenigstens bei uns fort.“