Airbrush-Tattoo gefällig? Oder lieber: „Dein Name auf einem Reiskorn“? Im Angebot wären auch noch zwei Porträt-Karikaturisten, eine fünfköpfige Romafamilie, die herzergreifend singt, sowie ein Harfe spielender Peruaner. Sie alle stehen oder sitzen entlang der Hafenpromenade von Lindau. Und bei allen läuft das Geschäft gut.
Es ist viel los hier, an einem Spätsommertag im September, am wohl schönsten Hafen des Bodensees. Zwei geschwungene Molen begrenzen ihn; am Ende der einen steht Bayerns höchster – und einziger – Leuchtturm, am Ende der anderen der steinerne bayerische Löwe, der sein offenes Maul dem See zuwendet. Obacht, hier beginnt Bayern, sollte das heißen, gerichtet an alle, die mit dem Schiff kamen, um hier, in dieser alten Kaufmannsstadt, mit ihren Waren zu handeln. Diese Zeiten sind lang vorbei, gehandelt wird zwar noch immer, aber eben eher mit Kuchen, Kaffee und um den Hals zu hängenden Reiskörnern.
Die Stadt, vielmehr ihr historischer Kern auf der Insel, sieht jedoch immer noch so aus wie zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als der bayerische König Maximilian II. diesen Postkarten-Hafen errichten ließ: Alte Bürgerhäuser mit gestuften Giebeln, spitze Türme, bemalte Erker, holzgetäfelte Weinstuben. Und dazwischen, die Insel von Nord nach Süd zerteilend, der Bahnhof, eröffnet 1853 und ziemlich groß für eine so kleine Stadt.
„Wir brauchen keinen Bahnhof auf der Insel“, sagt Lukas Hummler. „Er hemmt die Stadtentwicklung.“ Hummler, ein Mann um die 50, ist Ur-Lindauer und überzeugter Insulaner. „Aber erst seit drei Generationen“, wie er scherzhaft sagt. Die alteingesessenen Patrizier würden so einen natürlich immer noch als Zuagroasten betrachten. Hummler sitzt im Restaurant des Segler-Clubs, direkt am See, hier merkt man nichts mehr von den vielen Touristen. Der gelernte Bootsbauer verdient sein Geld, indem er Boote repariert und ein Winterlager für sie unterhält. Obwohl er eher auf dem Wasser zu Hause ist, beschäftigt der Streit um den Bahnhof Hummler auch schon seit Jahren, wie viele andere Bürger der Stadt: Die einen wollen den Bahnhof weghaben, um die Teilung der Insel zu beenden und neue Wohnungen zu bauen. Die anderen wollen ihn behalten. Nach mehreren Bürgerentscheiden wurde ein Kompromiss gefunden: Der Bahnhof wird nur geringfügig zurückgebaut, gleichzeitig soll ein neuer Fernbahnhof am Festland für die schnellen Züge zwischen München und Zürich entstehen. Hummler, der der FDP nahesteht, hätte lieber die Bahnflächen zum neuen Stadtquartier gemacht, so wie bei Stuttgart 21, nur ein paar Nummern bescheidener. „Die Einzigartigkeit der Insel wird nicht erkannt“, sagt er.
Für ihn bedeutet die Insel ein ganz besonderes Lebensgefühl, er ist hier aufgewachsen, „die Gassen und der Hafen waren für mich ein einziger Abenteuerspielplatz.“ Der See, der sich ständig ändert, das Wetter, das hier eine große Rolle spielt, vor allem für Segler wie ihn, der kleine abgeschlossene Kosmos, in dem man überall zu Fuß hinkönne. „Eigentlich muss ich die Insel den ganzen Sommer über nicht verlassen.“ Den vielen Touristen könne man ganz gut ausweichen, wenn man die Hafenpromenade meide, und ab Oktober gehöre die Stadt eh wieder den Einheimischen. Nur die Nebeldecke falle ihm im Winter nach gewisser Zeit auf den Kopf: „Herrgottsack, so ein Wetter, denk ich mir dann, aber trotzdem will ich nicht weg.“
Streit hin oder her, für Bahnreisende ist es natürlich toll, in den großen Inselbahnhof einzufahren, der ursprünglich weniger für Touristen, sondern für die Verschiffung von Korn, Salz und anderen Gütern in Richtung Schweiz und nach Italien gebaut wurde. Man tritt durch das recht angewelkte Jugendstilgebäude hinaus und steht gleich am Hafen: vor einem das mondäne, zartgelbe Gebäude des Bayerischen Hofs, an der Mole flattern die Fahnen im Wind, große Ausflugsschiffe fahren zwischen Löwe und Leuchtturm hindurch. Denkt man sich die vielen Senioren in Funktionskleidung weg und stattdessen livrierte Kofferboys mit ihren Handkarren her, dann ist das fast wie Urlaub anno 1896.
„Leberkäs-Touristen“ nennt Max Strauß die jährlich etwa drei Millionen Tagesbesucher, und er sagt: „Entwicklung, das ist für mich nicht, noch mehr Leberkäs-Tagestourismus auf die Insel zu ziehen.“ Oder, mit Blick auf den Bahnhof: „Entwicklung, das ist für mich nicht, alles zuzubetonieren.“ Strauß sitzt in einem Café an der Kopfseite des Bahnhofgebäudes, etwas abseits vom Leberkäs-Trubel, aber mit Blick auf den See. Der Mittfünfziger mit nackenlangen Haaren, Ohrstecker und blauen, wachen Augen ist Stadtrat für die Bunte Liste. „Links, aber undogmatisch“, fasst er deren Profil zusammen. Dreimal hat er für sie als Bürgermeister kandidiert, einmal hat er das Amt mit 46 Prozent nur knapp verfehlt. Strauß ist seit Jahrzehnten in der Stadtpolitik engagiert, hat das in Lindau legendäre Jugendkulturzentrum Club Vaudeville mitgegründet, das im Sommer Konzerte auf der Insel veranstaltet.
Den Bahnhof brauche es, findet Strauß, er ist mit dem Kompromiss zufrieden. Nicht nötig hingegen ist seiner Meinung nach ein zwölf Meter hohes Parkhaus direkt am Seeufer. Das wird nun gleichzeitig mit der neuen Inselhalle gebaut, die für den Lindau-Tourismus von großer Bedeutung ist. Strauß hatte einen Bürgerentscheid gegen das Parkhaus initiiert, der aber knapp am Quorum gescheitert ist. „Die Leute sollen gar nicht mit dem Auto auf die Insel kommen“, sagt Strauß. „Die Psychos kommen eh mit Rädern und die Nobels mit Bussen und der Bahn.“
Die Nobels und die Psychos. Das sind, neben den Leberkäs-Touristen, die zwei Konstanten auf der Insel. Einmal im Jahr treffen sich hier Nobelpreisträger und bis zu 600 Nachwuchswissenschaftler. Und das seit 1951. Ein Aushängeschild für die Stadt. Ebenso lange schon finden hier die Psychotherapie-Wochen statt, ein Fortbildungskongress im touristisch eher mauen April, zu dem knapp 4000 Psychotherapeuten kommen. Hauptveranstaltungsort für Nobels und Psychos ist die Inselhalle am Nordufer. Die war aber zu klein und nicht mehr zeitgemäß und so wird sie nun für 50 Millionen Euro, die Freistaat und Stadt sich teilen, weitgehend neu gebaut – inklusive des Parkhauses mit Seeblick für 400 Autos.
Man tut sich in Lindau etwas schwer mit Veränderungen, hat es den Anschein. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Stadt eingebettet ist in eine Region, die fast so viel bietet wie eine Metropole: Wer hochwertigste Architektur und moderne Kunst erleben will, fährt zehn Minuten mit dem Zug nach Bregenz und geht ins Kunsthaus. Wer Karriere in der Industrie machen will, pendelt nach Friedrichshafen. Und wer ins Theater möchte, ist schnell in Zürich. Nichtsdestotrotz hat sich auch in Lindau in den letzten Jahren kulturell einiges getan. Im Cavazzen, einem barocken Patrizierhaus, finden regelmäßig gut kuratierte Ausstellungen zu Picasso, Matisse oder zuletzt Emil Nolde statt. Das Stadttheater, Anfang der Fünfzigerjahre genial hineingebaut in das ehemalige Barfüßerkloster, ist für sich eine Sehenswürdigkeit. Nicht nur die Architektur, auch die Einrichtung ist hier original Fifties und zu Recht denkmalgeschützt. Zwar hat das Theater kein Ensemble, aber ein sehr ambitioniertes Gastspielprogramm. Und in der Kirche des ehemaligen Klosters ist eine Lindauer Spezialität untergebracht: die Marionettenoper.
Heute Abend wird „Carmen“ gegeben. Bernhard Leismüller bereitet gerade die Kulissen vor und hängt die prachtvollen Puppen hinein. 400 Marionetten hat er im Fundus, die meisten großteils selbst gemacht. Die Musik läuft vom Band. „Aber unser Ziel ist es, die Leute vergessen zu machen, dass das Puppen sind.“ Leismüller ist vor 15 Jahren aus Bad Tölz hierher gekommen. „Ich habe geschaut: Wo ist es schön und wo gibt es Nachfrage?“ Seitdem ist er in der Stadt eine feste Größe; die 150 Vorstellungen pro Jahr sind meist ausverkauft. „Lindau war ein Glücksgriff“, sagt er. „Die Urlauber hier sind schon etwas gesetzter, also genau unser Publikum.“ Und die Lindauer, kommen die auch? „Na ja, das ist überall das Gleiche. Welcher Kölner geht schon in den Dom?“