Was für ein Frieden! Die Malga Zocchi liegt da wie eine Alm aus dem Bilderbuch. Ein helles, steinernes Haus in einer sanft ansteigenden Blumenwiese, eingerahmt von saftig grünen Lärchen. Die Kühe machen sich an den Orchideen zu schaffen, während direkt vor dem Haus ein Esel neugierig über den Zaun schaut. Über einem Feuer aus Fichtenholz werden kleine Käselaibe geräuchert, die einen würzigen Duft verströmen.
Aber wenn es nach der Sennerin Graziella Marisa ginge, einer energischen Frau mit rötlich gefärbtem Kurzhaar, dann könnte es hier durchaus ein bisschen weniger friedlich zugehen. „Hier bei uns wird nichts gemacht zum 100. Kriegsjubiläum“, sagt sie vorwurfsvoll, „die Tourismusverantwortlichen haben gesagt, wir sollen uns was überlegen – das kann nicht wahr sein, oder?“ Schließlich verarbeitet sie hier mit ihrem Bruder und ihrer Tochter täglich die Milch von 22 Kühen zu verschiedenstenKäsesorten und bewirtet Gäste mit Polenta oder Gnocchi, da kann sie sich nicht auch noch einen Kopf um Gedenkveranstaltungen machen, oder?
Auf der Alm, über die die Front verlief, wurde 1916 der italienische Nationalheld Cesare Battisti gefangen gehalten, bevor ihn die Österreicher nach einem Schauprozess in Trient hinrichten ließen.
Die Malga Zocchi liegt an der nördlichen Seite des Monte Pasubio, eines karstigen Felsmassivs, das sich südöstlich von
Rovereto erstreckt und dessen Name in ganz Italien untrennbar mit der „Grande Guerra“, dem Ersten Weltkrieg, verbunden ist. Denn am Monte Pasubio verstrickten sich zwischen 1916 und 1918 italienische
Alpini und österreichisch-ungarische Kaiserjäger in einen brutalen Stellungskrieg, der allein auf dem Gipfelplateau des Berges 10 000 Tote und ein Vielfaches an Verwundeten gefordert hat. Der Berg ist auf allen Seiten durchzogen von alten Militärstraßen und Maultierpfaden, oft spektakulär in den Fels gehauen, mit vielen Tunneln, die die Soldaten vor feindlichen Angriffen schützen sollten. Auf diesen Pfaden verläuft ein Abschnitt des „Sentiero della Pace“, des Friedensweges, der circa 500 Kilometer von der Marmolada im Osten über den Monte Pasubio im Süden bis zum Stilfser Joch im Westen reicht, einmal durchs Trentino, das damals Welschtirol hieß – immer an der Frontlinie entlang, an der sich Soldaten Österreich-Ungarns und des italienischen Königreichs gegenüberlagen.
Bevor die Frontlinie zu einem Weg des Friedens und Gedenkens werden konnte, war sie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ältere Arbeitnehmer, wie Claudio Fabbro erzählt, einer der Initiatoren des Sentiero della Pace. Fabbro ist bei der Landesverwaltung des Trentino für Wege und Hütten zuständig. „Mir kam 1986 die Idee, die Arbeitslosen zur Sanierung und Markierung der alten Kriegspfade einzustellen.“ Das versöhnende Element sei dann hinzugekommen: „Wer auf diesem Weg wandert, vorbei an Schützengräben, Festungen und Kriegsüberresten, kommt zwangsläufig ins Nachdenken“, so Fabbro. In den vergangenen Jahren wurde der Weg etwas vernachlässigt, die Markierung mit der gelben Friedenstaube war kaum noch zu sehen. Doch zurzeit, versichert Fabbro, würden die Markierungen erneuert.
Der spektakulärste Wanderweg auf den Monte Pasubio, die „Strada delle 52 Gallerie“ (Straße der 52 Tunnel) gehört streng genommen gar nicht zum Friedensweg, lohnt aber den Aufstieg allemal. Markierung bräuchte es hier keine, denn an Wochenenden im Sommer muss man nur immer der Masse nachgehen, so beliebt ist der Weg, der von Süden auf das Bergmassiv führt. „Auf jedem Schritt siehst du hier den Wahnsinn und die Mühen des Krieges“, sagt Michele Zandonatti und geht mit Stirnlampe durch die ersten Tunnel voran. Der 45-Jährige ist Wanderführer und Experte in Sachen Grande Guerra. Seit Jahren erforscht, säubert und vermisst er die vielen Tunnelsysteme, die von beiden Kriegsparteien in den Kalk des Massivs getrieben wurden. „Schon als Kind haben mich die Erzählungen der Alten über den Krieg in den Bergen fasziniert.“ Er habe wissen wollen, was genau an den verschiedenen Orten passiert sei und weshalb. „Als ich Bücher gelesen und nachgeforscht habe, wurde mir klar, dass manches von dem, was erzählt wurde, gar nicht stimmen konnte.“
Richtig ist jedenfalls, dass die Strada delle 52 Gallerie zwischen Februar und Dezember 1917 von der italienischen Armee gebaut wurde, um geschützt vor österreichischem Beschuss den Nachschub auf das umkämpfte Bergplateau zu bringen. Der für den Lastentransport durch Maultiere gebaute Weg überwindet auf einer Strecke von 6,3 Kilometern rund 700 Höhenmeter. „Wenn man es von unten ansieht, denkst du, wer in diese Felswand einen Weg bauen will, muss verrückt sein“, sagt Zandonatti. Aber die Ingenieure hätten gesehen, dass sie das waagrecht geschichtete Gestein ausnützen konnten. Der Weg bietet deshalb immer wieder phantastische Aussichten auf die zerklüftete, grün bewachsene Felslandschaft, weiter oben auf die padanische Ebene mit Städten wie Schio oder Vicenza. Dorthin, in die offene Ebene, durfte der Feind auf keinen Fall kommen, auch deshalb war der Pasubio so hart umkämpft. Bei der Sommerhitze sind die feuchtkalten Tunnel eine willkommene Abkühlung, einer windet sich spiralförmig 300 Meter lang durch den Fels hinauf.
Als wir am Rand des Pasubio-Plateaus ankommen, zieht Nebel auf, ein Steinadler schraubt sich in der letzten Thermik hoch und verschwindet in den Wolken. Das sei typisch für den Pasubio, sagt Zandonatti, die Hitze und Feuchtigkeit der Ebene kondensiere hier oben zu Nebel. Die Gallerien-Straße endet beim Rifugio Achille Papa, benannt nach einem General. Es steht dort, wo während des Krieges das Hauptquartier der italienischen Pasubio-Streitkräfte lag. Geschützt hinter dem Grat war es eine große Barackensiedlung, die von den Soldaten „Piccola Milano“, Klein Mailand, genannt wurde. Von hier geht es auf dem Sentiero della Pace weiter über das Karstplateau, vorbei an einem Soldatenfriedhof mit römischem Triumphbogen, den nach dem Krieg die Faschisten hier aufstellen ließen. Wären nicht das Grün, die symmetrischen Schützengräben und die Schneeflecken, man wähnte sich auf dem Mond.
Auf einem kleinen Gipfel, dem Dente Italiano (Italienischer Zahn) bleibt Zandonatti stehen und zeigt auf den wenige Hundert Meter entfernten Nebengipfel. „Dort, am Dente Austriaco lagen die Österreicher, hier die Italiener. Die Frühjahrsoffensive der k.u.k-Truppen kam im Mai 1916 genau hier zum Stillstand. Die Front veränderte sich bis zum Kriegsende nicht mehr, trotzdem starben Tausende Soldaten, Wahnsinn!“ Vor allem im Sommer und Herbst 1916 wurde hier erbittert gekämpft, mit Mörsergranaten, Maschinengewehren und Mann gegen Mann. Als man merkte, dass keine Partei dadurch militärisch vorankam, verlegte man sich 1917 darauf, Felstunnel bis zu den Gegnern zu graben und darin gewaltige Minen zu zünden, was aber auch keine Entscheidung brachte.
Es ist ein bedrückender Ort, an manchen Stellen liegen noch verrostete Dosen, Stacheldraht und Granatsplitter herum. Man wandert durch eine Steinlawine aus riesigen Felsblöcken. „Das Ergebnis der 50-Tonnen-Mine, die die Österreicher hier gezündet haben“, sagt Zandonatti und fügt bewegt hinzu: „Sie liegen immer noch darunter.“ Man muss an das unermessliche Leid der Soldaten denken, die im Extrem-Winter 1916/17 auch noch durch Lawinen und Krankheiten starben. „Dabei war das hier eine absolute Nebenfront“, sagt Zandonatti. Für die Österreicher war die Ostfront viel wichtiger, für die Italiener jene am Isonzo. Deshalb hieß es trotz allem unter den italienischen Soldaten: „Qui si mangia peggio, ma si muore di meno“– Hier isst man schlechter, aber man stirbt weniger (als am Isonzo).
Und so ist man ganz froh, als man das Karstplateau wieder verlässt und über einen schönen Steig auf die sattgrünen Almen hinunterkommt, auf die Malga Zocchi, wo der Räucherkäse vor sich hin duftet und der Esel keine Geschütze ziehen muss, sondern von satten Touristen gefüttert wird. Und es wird einem viel stärker als sonst klar, welches Privileg der Frieden ist.