Schon in der Seilbahn zur Seegrube bietet sich ein skurriles Bild: Menschen in Skibekleidung neben Wanderern in kurzen Hosen, des Weiteren ein Gleitschirmflieger mit großem Rucksack, zwei Asiatinnen in Minirock und Ballerinas, ein Rollstuhlfahrer. Von denen in Anorak und Skihosen haben nur wenige Ski oder Snowboard dabei. Die meisten halten seltsame, etwa einen halben Meter lange und recht breite Aluminiumplatten in den Händen. Einer von ihnen fragt spöttisch: „Geht’s oben zum Skifahren auch noch?“Ein anderer ruft: „Für ein paar Wahnsinnige schon. Die Skifahrer sagen ja immer: ,Fürs Figln ist es noch zu früh‘.“
Figln. Wenn der Innsbrucker zur Innsbruckerin sagt: „Gehnmer Figln?“, so meint er damit nichts Anstößiges. Figl steht für Firngleiter und bezeichnet die breiten Kurzski aus Alu, die traditionell mit zwei Lederlappen über Ski- oder Wanderschuh verschnürt werden. Die Zeit des Figlns ist dann gekommen, wenn den Innsbrucker frühmorgens das Vogelgezwitscher aus dem Schlaf reißt, die Magnolien aufplatzen und die Sonne heiß auf die Südhänge der Nordkette brennt. Dann entsteht der Stoff, den es zum Figln braucht: eine Schicht aus schmierigem, nassem Schnee, auf dem es sich exquisit zu Tal gleiten lässt. Firn eben.
Nun kann man dem Firn auch mit Tourenski äußerst positive Seiten abgewinnen. Doch da müsste man sehr früh aufstehen und, zumal in diesem schneearmen Winter, ständig Angst haben, sich den empfindlichen Belag zu ruinieren. Das fällt beim Figln weg. Die Alubrettln haben weder Belag noch ernstzunehmende Kanten. Über Steine bügelt man einfach drüber. Und vom Zentrum Innsbrucks aus ist man mit drei verschiedenen Seibahnen in etwa einer halben Stunde am Hafelekar auf 2256 Meter – kann also ganz gemütlich frühstücken.
Doch ein Figl-Anfänger macht sich natürlich so seine Gedanken, bevor er sich auf ein bisschen Blech eine knapp 40 Grad steile Rinne hinunterstürzt. Damit solche Gedanken in eine positive Richtung geleitet werden, ist da Christoph Rangger, braun gebrannter Wirtschafts-Student und Skilehrer. Es ist der erste Figlkurs, den er gibt. Denn figln tun hier fast nur Einheimische, und zwar von Kindesbeinen an. „Du musst dich einfach hinten eini stellen“, sagt Christoph. Das heißt: maximale Rückenlage. Und: „Nicht über die Kanten fahren.“ Denn die Kante bringt einem bei dem an der Ferse jäh endenden Figl herzlich wenig.
Im Skiverleih an der Seegrube händigt Rudi Theyermann ein Paar Figl aus, die aussehen, als seien sie seit 1955 in Gebrauch. Macht aber nichts, denn die Dinger sind nahezu unzerstörbar, sagt Rudi, der seit 25 Jahren an der Seegrube Ski verleiht und auch etwa 50 Paar Figl vorhält. Über die nun beginnende Figl-
Saison schüttelt Rudi nur den Kopf. „In einem normalen Winter fallen hier circa zehn Meter Schnee, heuer waren es nur vier. So schlecht war’s noch nie.“ Dann erzählt er, wie man in manchen Jahren den „Arzl-Lawinenstrich“ bis in den Juni hinein auf 1100 Meter hinunterfigln konnte – zurzeit nicht daran zu denken.
Dafür ist die Seilbahn von der Seegrube aufs Hafelekar kurz nach elf Uhr aber ganz schön gut gefüllt. 95 Prozent Figler, darunter viele Figlerinnen, der Rest Skifahrer sowie die zwei Asiatinnen im Minirock. Man stapft im Gänsemarsch etwa fünf Minuten durch den Schnee bis zum Einstieg der Karrinne. Alle setzen sich hin, ein allgemeines Anschnallen und Zuschnüren beginnt. Die Figl ließ sich ein aus Igls stammender Skilehrer namens Henrich Emo in den 1950ern patentieren, zwei Firmen produzieren sie noch. Figl waren für Bergtouren gedacht, bei denen zum Skifahren schon zu wenig Schnee liegt, sie sind deshalb auch mit Wanderschuhen fahrbar.
Der erste Blick in die Rinne, die sich zwischen Felswänden öffnet, ist eindrücklich. Ziemlich steil und schmal, Steine liegen herum. Christoph zeigt auf eine noch viel steilere Rinne, die vom Brandjochkreuz hinunterführt, seine bisher steilste Figltour. „Da musst dich ordentlich hinten eini stellen, weil wenn’s dich da zupft . . .“ Wenn’s einen zupft, dann stürzt man. Solange man dabei nicht auf einen der rumliegenden Steine fällt, ist das halb so schlimm, denn der nasse, aufgeweichte Schnee ist ein weiches Bett. Diese Erfahrung macht der Figlanfänger in den kommenden 15 Minuten relativ häufig, obwohl er sich ziemlich stark „hinten eini“ stellt. Meist fällt er auf den Hintern, manchmal aber auch nach vorne. Die meisten anderen Figler tun das auch. So richtig elegant sieht es bei den wenigsten aus. Man fährt ohne Stöcke, dafür scheppernd auch über Steine. Es ist ein Vor- und Zurückschwanken, ein Austarieren der richtigen Rücken- und Kurvenlage. Hat man die aber einmal gefunden, stellt sich sofort ein Surfgefühl ein, die breiten Figl heben sich richtig aus dem Schnee heraus.
Da alle in den selben Spuren hinunterfräsen, entstehen bald hüfttiefe Kanäle, in denen es sich wie in einer Wasserrutsche fährt: Man surft auf dem nassen, zu Tal rutschenden Schnee. „In einem normalen Winter“, sagt Christoph in einer Verschnaufpause, „sind die Rinnen bis zu zwei Meter tief, sodass man fast darin verschwindet.“ Diese Geschichte erzählen einem viele Figler. Man kommt leicht mit ihnen ins Gespräch, da alle etwa an den selben Stellen aus den Kurven fliegen. Dass keiner die Entenfüße richtig unter Kontrolle hat, macht die Gaudi aus.
Die 350 Höhenmeter lange, hochalpine Abfahrt endet auf der Terrasse der Seegrube – in einer anderen Welt. Neben dem vor sich hinschmelzenden Schnee-Iglu spielt ein DJ Acid-Jazz, die Ausflügler sonnen sich in Liegestühlen mit Blick auf das grüne Innsbruck. Direkt von der Terrasse rennen über eine Rampe im Minutentakt die Drachenflieger hinaus, der Himmel ist voll von ihnen, von Gleitschirmen und Alpendohlen. Nur Letztere landen auf den Tischen und betteln um Pommes Frites. Von unten kommen schon Wanderer herauf, und Mountainbiker stürzen sich stoßgedämpft ins Tal. Oben in der Rinne vergnügen sich die Figler. Ein Wimmelbild, wie von Bruegel gemalt. Titel: „Spielplatz der Innsbrucker“.