Der Extremkletterer an sich ist ja häufig kein großer Redner. Sieht man mal von Reinhold Messner ab, der alle 14 Achtausender der Rhetorik mehrfach erklommen hat, mit oder ohne Sauerstoff. Warum tun sie das, fragt der normale Mensch den Extremalpinisten. „Aufi muass I“, antwortet der häufig. Oder: „Um meine Grenzen kennenzulernen.“ All das ist wenig befriedigend. Und so verhält es sich mit den Bergsteigern wie mit den Schriftstellern oder Malern: Ergötze dich an ihrem Werk, aber frage nicht, was sie uns damit sagen wollen!
Der Reiz, sie doch zu fragen, ist besonders groß, vor allem, wenn einer Dinge tut, die gegen jeden menschlichen Überlebensinstinkt gehen. Etwa ohne jede Sicherung über ein Band balancieren, das zwischen zwei Felsen 1000 Meter über dem Yosemite-Tal gespannt ist; eine der schwierigsten Routen am Eiger allein und ungesichert hochklettern, nur mit einem kleinen Fallschirmrucksack am Rücken, der, im Falle eines Sturzes, eventuell das Überleben sichert; oder mit einem Spezialanzug vom Eiger runterhüpfen und dann drei Minuten wie ein Gleithörnchen über das Berner Oberland fliegen, um 100 Meter vor dem Boden den Fallschirm zu ziehen. Dean Potter macht all diese Sachen – und noch ein paar andere mehr. Warum, Dean?
Der 39-jährige Amerikaner sitzt tiefenentspannt im Kulturzentrum am Gasteig in München, zwei Stunden vor seiner Show, die seit Tagen ausverkauft ist. Er trägt Holzfällerhemd, Jeans und Turnschuhe. Seine Hände sind ziemlich groß, seine Lider hängen etwas, was ihm einen leicht bekifften, jedenfalls entspannten Ausdruck verleiht. Er spricht langsam und gewählt. „Ich nenne es nicht Sport, was ich mache, sondern Kunst.“ Seine Show, 15 Filme, zwischen denen er im Spotlight auf der Bühne spricht, hat er „The Aerialist“ genannt. Sein starker Körper sei nur eine Voraussetzung für seine Kunst, die, wie alle Kunst, ein kreativer Prozess sei, eine „Suche nach der Schönheit“. Schön könne es sein, auf einer Wiese inmitten der Natur zu liegen und zu schlafen, sagt er. „Schön ist es aber auch, auf einem Fels zwischen Licht und Schatten hochzuklettern, über ein Seil zwischen zwei Bergen zu balancieren oder eine tolle Schlucht hinunterzufliegen.“ Dass damit ein sehr hohes Risiko verbunden ist, in Schönheit zu sterben, ist Teil des Spiels. Aber Spiel würde es Potter, Sohn einer Yoga-Lehrerin und eines Soldaten, niemals nennen. „Die Lebensgefahr aktiviert bei mir Gefühle und Zustände, die ich im Alltag niemals haben könnte. Es ist für mich die höchste Form der Spiritualität“.
Doch nur von der Spiritualität lässt es sich nicht leben, und auch ein Künstler braucht Publikum, sonst erführe ja niemand von seiner Kunst. Für einen Solo-Kletterer und Base-Jumper, der sich häufig in menschenleeren Felswänden herumtreibt, ist das zunächst einmal nicht so einfach – gäbe es da nicht Youtube. Dort kann man, gefilmt teils von Potters Gefährten, teils von professionellen Teams, viele seiner Kunstwerke besichtigen. Zwar sind sie nicht abstrakt, dennoch hinterlässt so manches den Betrachter etwas ratlos. So klettert Potter etwa eine Route im 9. Schwierigkeitsgrat und stürzt sich dann aus der Wand in die Tiefe; er tut so, als hätte er sich nicht mehr halten können und wäre abgestürzt. Aber, jetzt kommt Potters Zaubertrick, er hat ja den kleinen Fallschirm dabei, den er zieht – so spät wie möglich. Im Film und in Interviews sagt er dann seinen Lieblingssatz: „And instead of dying, I am flying.“ Statt zu sterben, fliege ich. Ein guter Slogan und etwas Show muss sein, schließlich lebt ein Extremsportler vor allem von Sponsoren, und die brauchen Aufmerksamkeit.
Wie er da so sitzt, wirkt Potter allerdings nicht wie ein Showman, und man darf ihm glauben, wenn er sagt, er betreibe seine Kunst vor allem für sich und seine Freunde. Jedenfalls verlor er 2006 seinen Hauptsponsor, weil er in Utah den Sandsteinbogen Delicate Arch hochkletterte, was ein ungeschriebenes Gesetz verbot. Die Öffentlichkeit war entrüstet, warf ihm Respektlosigkeit vor. Bei diesem Thema wird Potters Stimme erstmals energischer. Die Regeln des Nationalparks hätten es nicht verboten, es seien Menschen „mit negativen Energien“, die das Ganze angezettelt hätten: „Ich verstehe nicht, warum man nicht die Schönheit sehen konnte: ein Mann, der über einen Felsbogen klettert.“ Es sei kein Fehler gewesen, sagt er, auch wenn es der Todesstoß seiner ohnehin bröckelnden Ehe mit der Extremklettererin Steph Davis gewesen sei, die wegen der Aktion ebenfalls ihren Sponsor verloren hatte.
Potter hat schnell neue Sponsoren gefunden. Er lebt heute im Yosemite-Nationalpark, zum Teil in einer kleinen Hütte mitten in der Wildnis. „Ich bin ein Einzelgänger.“ Er hat einen Hund, der Whisper heißt und den er vermisst, während er durch Europa tourt. Auf seinem I-Phone zeigt er Fotos, wie er eine Wand hochklettert mit der Mischlingshündin im Rucksack. „Sie liebt es, vor allem das Runterlaufen.“ Die Hündin sieht zumindest nicht entsetzt aus. Im Yosemite hat er auch viele seiner Kletter-Glanztaten vollbracht, etwa die beiden größten Wände, den El Capitan und den Half Dome innerhalb von 24 Stunden alleine zu klettern. Gute Seilschaften brauchen für einen davon schon mehrere Tage. Auch Hochseilakte hat er dort gemacht, ist in großer Höhe auf einem selbst gespannten schmalen Band ohne jede Sicherung am Lost Arrow balanciert. „Es geht für mich nicht darum, die Angst zu besiegen, sondern sie zuzulassen und trotzdem ruhig zu bleiben“, sagt Potter. Ihm gelinge das vor allem durch seine Atemtechnik.
Base Jumping, die dritte Disziplin seiner Kunst, ist im Yosemite allerdings verboten. „Dort bin ich ein Krimineller“, sagt Potter, der dafür immer wieder nach Europa kommt. Gerade hat er sich in Salzburg einen neuen Fluganzug gekauft. Zurzeit liegt sein Fokus nicht auf dem Klettern, sondern auf dem Fliegen. Vor zehn Tagen, erzählt er, sei er mit seinem Freund Ivo Ninov, der ihn auf der Tour begleitet, am Eiger gewesen. Sie wollten dort eigentlich nichts Extremes machen, doch dann sei das Wetter so gut gewesen, dass sie hochgeklettert sind. Potter deutet auf die Turnschuhe mit flacher Gummisohle, die er anhat. „Ich hatte gar keine Kletterschuhe dabei, aber die hier haben auch einen ganz guten Grip.“ Etwa 2000 Höhenmeter sind sie den Eiger hinauf, um von einem Vorsprung in ihren Fluganzügen runterzugleiten. „Wenn man einen Stein fallen lässt, schlägt er nach acht Sekunden auf. Ich konnte diesmal mehr als drei Minuten und eine Strecke von sieben Kilometer fliegen, das ist ein neuer Rekord.“
Sein Ziel sei es nun, mit einem solchen Anzug zu fliegen und zu landen – ohne Fallschirm. „Das ist der älteste Traum des Menschen.“ Keine Angst, so zu enden, wie viele Vorgänger? „Ich habe große Angst, aber ich glaube, das Ziel in kleinen Schritten erreichen zu können.“ Er will es an einem Schneehang versuchen, mit in den Fluganzug integrierten Kufen.
Danach, in der Show, in der es viel um die Träume des kleinen Dean und deren Erfüllung geht, erzählt er, wie er zwei Tage nach dem Tod seines Vaters seine Mailbox abgehört hat. Die letzten Worte des Vaters, der nicht immer einverstanden war mit den Aktivitäten seines Sohnes: „Ich glaube, das Landungsproblem kann gelöst werden.“