Der Nachmittag ist fortgeschritten, als es noch einmal spannend wird. Die steile Piste über dem Dorf Celerina liegt schon halb im Schatten. „Jetzt nimmt mich Wunder, wie die Chinesen fahren.“ Riet Campell schaut hinauf zu dem schmalen Kunstschneeband, das sich zwischen unweihnachtlich braunen Wiesen ins Tal zieht. Den ganzen Tag über haben die Chinesen am Babylift Lektionen erhalten, nun sind sie mit ihrem Ausbilder in der Gondel hinauf, um Kurzschwünge zu üben. Der erste wedelt herunter wie ein junger Gott. „Das ist Arsène, mein technischer Leiter; man sieht schon, dass der mal im Europacup gefahren ist“, kommentiert Campell. „Und das ist jetzt ein Chinese . . . Der tut ja wie ein Hase mit Bauchschuss. . . Aber er gibt sich alle Mühe!“
Riet Campell ist Jäger, aber vor allem ist er Direktor von Swiss Snowsports, dem eidgenössischen Verband der Skilehrer und Skischulen. Als solcher ist ihm daran gelegen, dass möglichst viele Menschen in der Schweiz Ski fahren. Und weil es 1,3 Milliarden Chinesen gibt, von denen viele gerne mal etwas Neues ausprobieren, und immer mehr sich das auch leisten können, hatte er die Idee, ein paar von ihnen in der Schweiz zu Skilehrern auszubilden. Sie könnten dann, so die Überlegung, chinesische Gäste in den Schweizer Skiorten betreuen oder in ihre Heimat zurückgehen und dort als Botschafter für die Schweiz fungieren. „My Switzerland“, die umtriebigen Vermarkter des Reiselandes Schweiz, fanden die Idee mehr als gut. So ging man daran, mittels Kontaktleuten in China Ausschau zu halten nach jungen Leuten die a) Ski fahren und b) einigermaßen Englisch können. Die Schnittmenge zwischen beidem scheint sehr gering zu sein, doch schließlich fand man immerhin 20, die sich im vergangenen September in einer Skihalle in Peking einer Prüfung unterzogen in Fahrkönnen und Englisch. Acht wurden ausgewählt und dürfen nun vier Monate lang eine Schweizer Skilehrerausbildung absolvieren, jeder in einem anderen Ort.
Nur in der ersten Woche sind alle hier zusammen in Celerina, dem Nachbarort von St. Moritz. Sie erhalten den einführenden Kurs, bei dem es vor allem um die Arbeit mit Kindern geht. Am Ende der Woche wird es eine Prüfung geben. Wer sie besteht, kann schon als Skilehrer für Anfänger-Kinder arbeiten.
Song Shuyao zum Beispiel. Die zierliche 26-Jährige aus der Stadt Changchun im eisigen Nordosten Chinas ist die einzige Frau in der Gruppe. Und schon jetzt zeichnet sich ab: Sie hat am meisten Talent. „Das Meitli fährt ganz gut“, lässt sich Riet Campell zu einem Lob hinreißen, als sie in schnellen Kurzschwüngen den Hang herunterfährt. Und auch die anderen sind angetan von ihr: Sie lerne schnell und sei „fit wie ein Turnschuh“, sagt eine Ausbilderin. Das mag daran liegen, dass Shuyao chinesische Meisterin in Skiakrobatik war, einer Disziplin, in der man über sehr große Schanzen springt und allerlei Schrauben und Salti vollführt.
„Meine größte Sorge war, dass ich mit dem Essen hier nicht so zurecht komme“, sagt sie, „deshalb habe ich auch eine kleine Pfanne mitgebracht.“ Sie möchte ab und zu für die anderen kochen, etwa zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar. „Da ist es schlimm, wenn man nicht bei seiner Familie sein kann, vielleicht lade ich da die anderen sieben zu mir nach Davos ein.“ Sie kennt das Essen hier bereits, denn sie war schon einige Male für Skiakrobatik-Wettbewerbe in der Schweiz. „Mir ist das zu süß und sahnig. Ich mag es lieber scharf und salzig.“ Zwar ist sie schon länger nicht mehr als Leistungssportlerin aktiv („Metall im Schienbein“), aber an diesem Tag in Celerina hilft ihr auch ihre Erfahrung mit Medien. Gleich vier Fernsehteams sind gekommen, mehrere Fotografen, Zeitungsreporter. Bereitwillig und professionell gibt sie Interviews, lächelt durch ihre Designerbrille in die Kameras, gibt sich dankbar und bescheiden. Wenn sie zurückkomme, sagt sie, wolle sie erst einmal ihr Studium in Sporttrainings-Wissenschaften beenden und dann den Chinesen die europäische Skikultur näher bringen, „nicht als Skilehrerin, sondern im Management eines größeren Skigebiets.“
Die Schweizer Skikultur, das ist in dieser ersten Kurswoche vor allem: Snowli. Das Maskottchen der Schweizer Ski-Kindergärten ist ein seltsames Hasenmischwesen mit Schlangenschwanz und Bärenpranken. Anhand seiner Geschichte werden den Kindern die grundlegenden Techniken vermittelt. Das Wesen stürzt nämlich als Hase von einem anderen Planeten in den Erdenschnee und trifft verschiedene Tiere, von denen es jeweils etwas lernt. Diese Art der Vermittlung beeindruckt alle acht Chinesen nachhaltig. Dass man nicht „links, rechts, Gewicht auf den Außenski“ brülle, sondern anhand der Snowli-Geschichte die Kinder spielerisch Übungen machen lasse, erwähnen sie alle als interessantesten Aspekt des Tages. „Wenn sie nach dieser Woche wissen, wer Snowli ist und warum es ihn gibt“, sagt ein Ausbilder, „dann haben wir viel erreicht.“
Yi Li wird Snow-Li sicherlich mitnehmen in sein Skigebiet „Dolomiti“. Der 28-Jährige ist dort, etwa 250 Kilometer nördlich von Peking, zuständig für die Skischule, den Skiverleih und das Restaurant. „Auch wir hatten bis jetzt diesen Winter wenig Schnee, ähnlich wie hier“, sagt er. Sein Skigebiet ist eines von vieren rund um die Stadt Chongli, drei weitere sind in Planung. Und es heißt nicht zufällig Dolomiti. Die in Südtirol ansässige Seilbahn-Firma Leitner hat es 2006 geplant und gebaut. Sie hält 90 Prozent der Anteile. Es reicht bis auf 2000 Meter, hat zehn großteils einfache Pisten und gehört damit zu den kleineren Gebieten. „Zu uns kommen vor allem Leute aus Peking – obere Mittelklasse.“ Sie blieben meist von Freitagabend bis Sonntag, wollten sich von der schlechten Stadtluft erholen, Hot Pot essen, das klassische Wintergericht, und, ja, auch ein bisschen das Skifahren ausprobieren, erklärt Yi Li. Er selbst war mehrere Jahre Fußballprofi in England, bis er sich schwer verletzte. „Meinen Eltern war das recht, sie wollten lieber, dass ich studiere oder einen Job mit Perspektive ergreife.“ Die hat er im Skigebiet Dolomiti. Man liege derzeit bei 50 000 Übernachtungen pro Jahr. „Das ist natürlich lächerlich im Vergleich zu Schweizer Orten, aber wir haben jedes Jahr 50 bis 80 Prozent Zuwachs.“
Zuwächse hat auch Daniela Bär, Leiterin der internationalen Medienarbeit bei My Switzerland, zu verzeichnen – und zwar an chinesischen Urlaubsgästen in der Schweiz. Seit 2009 lägen diese zwischen 25 und 40 Prozent jährlich. 2012 seien es insgesamt 865 000 Übernachtungen gewesen, die meisten im Sommer, auf klassischen Europa-Rundreisen, aber immerhin auch 100 000 Übernachtungen im Winter in Berggebieten. „Und manche wollten eben auch das Skifahren ausprobieren, einen, maximal zwei Tage lang“, so Bär. Dafür brauche es aber chinesisch sprechende Skilehrer, so haben es ihr manche Skiorte und Veranstalter mitgeteilt. Vom chinesischen Skiverband wisse man, dass die Zahl der Skifahrer von 10 000 im Jahr 1996 auf fünf bis sieben Millionen im Jahr 2005 gewachsen sei. Ein Drittel davon könne sich theoretisch eine Auslands-Winterreise leisten. „Wir wollen eben so früh wie möglich auf diesen Zug aufspringen.“ Deshalb erhalten die acht jungen Chinesen ihre Ausbildung in jenen Orten, die bis dato die meisten chinesischen Gäste verbuchen. Es sind fast nur Orte, die luxuriösen Urlaub anbieten, von St. Moritz bis Grindelwald.
Nach dem Praxisunterricht am Kinderhang gibt es abends noch Theorie im Seminarraum des Hotels, in dem die Chinesen untergebracht sind. Hier sind auch andere Skilehrer-Anwärter dabei, Deutsche, Schweizer. Es geht um Erste Hilfe und das richtige Material für Kinder. So aufmerksam wie die Chinesen sind die Europäer bei Weitem nicht. Auf die Frage, was der Flex sei, kommt von den meisten nur ein „Öh?“, während mehrere Chinesen gleich die Flex-Zahl ihres Skischuhes ausrufen. Besonders Ex-Fußballer Yi Li, aber auch der aus dem muslimisch geprägten Ürümqi stammende Li Yuanliang sind mit Enthusiasmus bei der Sache; sie übersetzen auch für die zwei, drei Kollegen, deren Englisch nicht ganz so weit ist wie ihr Skifahrstil.
„Wohin das alles führt, wissen wir nicht“, sagt Riet Campell, oberster Skilehrer der Schweiz, am Ende eines langen Tages. Er sieht es auch ein bisschen als Experiment. „Wir können von denen auch was lernen, nicht nur sie von uns.“ Deshalb beobachtet er seine Schüler genau. Als er sie vom Züricher Flughafen hierher gefahren hat, da seien sie am Flüelapass „ganz nervös geworden, als der erste Schnee an der Straße lag“. Und dann hat er ihnen gleich mal Bündner Gerstensuppe servieren lassen, nur, um zu sehen, wie sie reagieren. Und? „Naja, das Schnitzel mit Pommes danach haben sie dann alle gegessen.“ Dass die Chinesen die gute Ausbildung mitnehmen und dann nicht mehr viel über die Schweiz reden, glaubt er nicht. Schon jetzt machen sie Schweiz-Werbung in China: Über eine App posten sie Bilder und Texte von ihrem Aufenthalt. Nur einmal musste Campell Zensur üben. Als er ihnen in der Garage einen von ihm kürzlich erlegten Hirsch gezeigt hat, galt: „No photo!“ Nicht auszudenken, wenn die das gepostet hätten! (SZ vom 19.12.13)