Wenn Herbert Böck im Sportheim an der Allgäuer Alpspitze einkehrt, dann bleibt er nicht lange allein. Jedermann kennt ihn, er grüßt freundlich zurück. Eine Skifahrerin kommt her und sagt: „Ich denke immer noch an die Spätzle mit Soß’ oder Ihr Schnitzel mit Kartoffelsalat zurück – das war besser.“ Dann schmunzelt Herr Böck, ein großer, freundlicher Mann, zumal das Sportheim Böck ja immer noch seinen Namen trägt. Sonst ist hier aber nichts mehr, wie es einmal war – abgesehen von den Panoramafenstern, durch die man Zugspitze, Säuling, und, mit guten Augen, sogar Schloss Neuschwanstein sieht.
Herbert Böck war hier oben 46 Jahre lang der Wirt. Vor sechs Jahren hat er das von seinem Vater 1933 erbaute Sportheim an einen Augsburger Investor verkauft. „Mein Sohn ist Zahnarzt in Berkeley, und auch meine Tochter hatte kein Interesse, da mussten wir realistisch sein“, sagt Böck, der heute 73 ist, im Winter immer noch an der Alpspitze Ski fährt und in seiner alten Wirkungsstätte einkehrt. Klar hat es ihm leidgetan, und klar hätte er beim Umbau manches anders gemacht, aber es ist schließlich nicht unschön geworden, was der Investor aus den zwei spitzgiebeligen Gebäuden auf 1500 Metern gemacht hat. „Früher war’s schon etwas gemütlicher, familiärer“, sagt Böck, „aber die negativen Sachen, die vergisst man, oder?“
Für den, der das Früher nicht kennt, wirkt das Sportheim Böck heute durchaus gemütlich. Der große Gastraum ist mit Zirbenholz getäfelt, über hellen Tischen hängen schlichte Metalllampen, die langgezogenen Fenster zeigen das Panorama in Cinemascope. Untertags herrscht hier ganz normaler Skihüttenbetrieb, abends wird es still. Dann mutiert das Sportheim zur „Mountain Lodge“. Denn über der Gaststätte und im Nebengebäude hat der Investor vier edle Apartments bauen lassen, die als „Lodges“ vermarktet werden und dem urbanen Menschen das bieten, was er offensichtlich sucht: Hüttenambiente, aber bloß nicht zu rustikal und vor allem mit Annehmlichkeiten wie eigener Sauna, offenem Kamin und Wlan.
Der Trend zur Luxus-Bergunterkunft ist ungebrochen, seit in Österreich die ersten „Almdörfer“ eröffnet wurden. Da trifft es sich gut, dass der Betreiber Thomas Krobath und seine Partnerin Steffi Sepperer aus Österreich kommen. Sie haben vorher das Glocknerhaus auf 2100 Meter bewirtschaftet. Doch hier sei es logistisch manchmal schwieriger als am Großglockner, sagt Krobath. „Manchen Gästen ist nicht ganz klar, wie wir hier gelegen sind. Wenn sie herkommen, dann machen sie erst mal große Augen!“, so Krobath. Wenn die Seilbahn wegen Sturms nicht fährt oder die Lodge-Bewohner erst spätabends anreisen, ist die Pistenraupe das einzige Transportmittel. Falls nicht genug Schnee liegt, muss Krobath die Gäste, in Schaffelle gewickelt, mit einem Quad herauffahren. „Ein Geländefahrzeug hatte mein Vater schon ab 1936“, erzählt Herbert Böck. Aber im Winter, wenn der Lift nur bis zur Mittelstation ging, mussten sie Lebensmittel und Getränke auch mal auf Tourenskiern herauftragen. Dass die Leute heute so gerne nur zum Spaß Touren gehen, kann er nicht ganz nachvollziehen.
Sein Vater Ludwig war ein starker Skisportler, er wurde bei den Olympischen Spielen in St. Moritz Siebter in der Nordischen Kombination. „Er war bester Mitteleuropäer“, sagt Herbert Böck stolz. Weil Ludwig Böck gute Kontakte zu Sportvereinen hatte, bestückte er sein neu erbautes Sportheim vor allem mit Gruppen, etwa der Deutschen Turnschule Berlin, die hierher zur Ertüchtigung im Skilauf kamen, wie das damals hieß. Deshalb auch der Name Sportheim Böck. 1939 konfiszierten es die Nazis, nach dem Krieg ging der Betrieb wie vorher weiter.
Auch Herbert Böck hat vor allem mit Gruppen gearbeitet. 35 Betten gab es damals. Als Skilehrer kümmerte er sich um Skikurse und Animation. „Da hat die Leber schon manchmal gelitten“, sagt er. Seine Frau arbeitete in Küche und Service. Heute gibt es in den vier Ferienwohnungen noch insgesamt acht Betten und zur „Ertüchtigung“ kommen die Lodge-Gäste eher nicht, wie Betriebsleiter Krobath sagt. Sie wollten entspannen, es sich gutgehen lassen.
Das kann man in den mit Zirbenholz und Naturstein geschmackvoll ausgebauten Wohnungen nicht übel. Man fühlt sich zwar anfangs etwas wie in einer Holzschachtel, doch das ist ja auch gemütlich. Dass die modernen Segnungen wie Lichtanlage, Wifi oder Soundsystem natürlich nie das machen, was man als Gast gerade von ihnen möchte – geschenkt. Es ist eh viel besser, aus dem Fenster auf den Gipfelhang der verschneiten Alpspitze zu schauen und auf die vielen Schlangenlinien, die die Tourengeher hineingezeichnet haben.
Am Mittwochabend kann der geneigte, unsportliche Lodge-Gast von seinem Balkon aus einem schönen Spektakel vor dem Sportheim Böck beiwohnen. Im Minutentakt kommen aus dem Dunkel der Nacht Lichter, die sich als Stirnlampen von Tourengehern erweisen. Mittwochs im Winter ist Tourenstammtisch – schon seit Herbert Böcks Zeiten.
Schnee knirscht, Klebefelle ratschen, Gelächter ist zu hören, am Hang der Alpspitze tanzen die Lichtkegel der Stirnlampen durcheinander wie ein chaotisches Ballett.
Unter der Woche ist das Sportheim abends zu, die Gäste sollen ihre Ruhe haben in ihrem „Hideaway“, in das sie auf Wunsch auch das Diner geliefert bekommen. Es zahlt sich allerdings aus, sich unter die Tourengeher zu mischen und bei Röstkartoffeln mit Spiegelei teilnehmend zu beobachten. Nach Möglichkeit im Skidress, dann fällt man nicht so auf. Die meisten Gäste sind junge Leute in farbenfroher Funktionswäsche, viele Frauen, rote Köpfe vor lauter Anstrengung. Aber alle sind ziemlich gut drauf vom Sportmachen nach Feierabend. Das vorherrschende Getränk ist Weißbier. Man kommt schnell ins Gespräch und erfährt, dass die meisten das alte Sportheim Böck gar nicht mehr kennen.